Demokratischer Neubeginn
Es bestimmt seit 1949 parlamentarisches System und staatliches Leben der Bundesrepublik: das Grundgesetz. Die Verfassung, die keine sein sollte, hat sich als Erfolgsgeschichte erwiesen. Dabei waren die politisch Verantwortlichen in den westlichen Besatzungszonen zunächst alles andere als begeistert von der Aussicht, einen westdeutschen Staat zu begründen.
Nach der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 stellte sich
rasch heraus, dass sich die Siegermächte nicht auf eine
gemeinsame Deutschlandpolitik einigen konnten. Vor dem Hintergrund
des beginnenden Kalten Krieges deutete bald alles auf eine
Zweistaatenlösung hin. Die Initiative dazu ging von den
Westalliierten aus. Auf der Sechs-Mächte-Konferenz, die vom
23. Februar bis zum 2. Juni 1948 in London stattfand, entschieden
sie, dass aus den drei westlichen Besatzungszonen ein eigener Staat
werden solle.
In den "Londoner Empfehlungen" erteilten sie daher den drei
westlichen Militärgouverneuren in Deutschland den Auftrag, die
Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder zu
ermächtigen, spätestens zum 1. September 1948 eine
"Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen. Diese sollte eine
Verfassung für einen westdeutschen Staat mit "einer freien und
demokratischen Regierungsform" ausarbeiten.
Vorbehalte auf deutscher Seite
Die Begeisterung der Ministerpräsidenten hielt sich in Grenzen. Sie befürchteten, dass die Errichtung eines westdeutschen Staates die deutsche Teilung verfestigen werde. Ihnen lag daran, den provisorischen Charakter des neuen Staates und seiner Verfassung deutlich zu machen. Daher schlugen sie vor, die Verfassunggebende Versammlung "Parlamentarischen Rat" zu nennen und die Verfassung selbst "Grundgesetz". Außerdem sollte auf das sonst übliche Referendum über die Annahme des Grundgesetzes verzichtet werden.
Nach einigem Hin und Her ließen sich die Alliierten darauf
ein, und die eigentliche Arbeit begann: Vom 10. bis zum 23. August
1948 tagte auf Schloss Herrenchiemsee ein vorbereitender
Verfassungskonvent, der die Grundzüge eines "Bundes Deutscher
Länder" auf föderalistischer und liberaler Grundlage
ausarbeitete. Ihr Abschlussbericht bildete die Grundlage für
die Beratungen des Parlamentarischen Rats, der am 1. September 1948
in Bonn seine Arbeit aufnahm.
Aus Weimar gelernt
Diesem Rat gehörten 61 Männer und vier Frauen an, die von den elf westdeutschen Landtagen als ihre Vertreter gewählt worden waren. Abgeordnete von insgesamt acht Parteien waren im Parlamentarischen Rat vertreten; mit jeweils 27 Mitgliedern stellten CDU/CSU und SPD die große Mehrheit. Außerdem nahmen fünf Abgeordnete aus Berlin an den Beratungen teil, ohne allerdings stimmberechtigt zu sein. Zum Präsidenten des Parlamentarischen Rats wurde der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) gewählt.
Eine leichte Aufgabe war es nicht, vor die sich die Väter und
Mütter des Grundgesetzes gestellt sahen – zumal die
Alliierten immer wieder in Entscheidungen eingriffen und damit
für Kontroversen unter den Abgeordneten sorgten. Wichtig war
dem Parlamentarischen Rat vor allem, im Grundgesetz die
strukturellen Schwächen der Weimarer Verfassung zu vermeiden,
die im historischen Rückblick oft für das Scheitern der
ersten deutschen Republik verantwortlich gemacht werden. Das ist
ihnen gelungen: Dank der Vorgaben des Grundgesetzes konnte sich in
der Bundesrepublik ein starkes parlamentarisches Regierungssystem
entwickeln.
Geburtsstunde der Bundesrepublik
Vor allem stärkte der Parlamentarische Rat die Macht des Parlaments, das als einziges Verfassungsorgan direkt vom Volk gewählt wird und neben der Gesetzgebung eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Regierung spielt. Auch wurde erstmals in einer deutschen Verfassung die Bedeutung der Parteien verankert. Aus der historischen Erfahrung des menschenverachtenden Nationalsozialismus heraus enthält das Grundgesetz zudem einen umfangreichen Grundrechtekatalog. Zum Regierungssitz wurde Bonn bestimmt.
Nach achtmonatigen Beratungen wurde das Grundgesetz am 8. Mai 1949
im Parlamentarischen Rat mit 53 gegen zwölf Stimmen
angenommen. Auf den Tag genau vier Jahre nach der Kapitulation des
nationalsozialistischen Deutschlands waren damit die
verfassungsrechtlichen Grundlagen für einen liberalen
Rechtsstaat westlicher Prägung gelegt, der in den kommenden
Jahrzehnten seine Funktionsfähigkeit über manche Krisen
hinweg unter Beweis stellte. Nachdem auch die elf
Länderparlamente dem Grundgesetz zugestimmt hatten, trat es am
23. Mai 1949 in Kraft: Die Bundesrepublik Deutschland war
geboren.