1. Untersuchungsausschuss/
Berlin: (hib/KOS) "Wir haben 2005/2006 eine andere Entscheidung
getroffen als im Oktober 2002." Mit diesen Worten begründete
Kanzleramtsminister Thomas de Maizière am Donnerstag vor dem
Untersuchungsausschuss die Bemühungen der neuen Kanzlerin
Angela Merkel, sich gegenüber den USA für die Freilassung
des seit Anfang 2002 in Guantanamo festgehaltenen Bremer
Türken einzusetzen und dessen Rückkehr nach Deutschland
zu ermöglichen. Nach den Ausführungen des CDU-Politikers
wurden im Fall Kurnaz von November 2005 an die humanitären
Aspekte den Sicherheitsbedenken übergeordnet, die auch zu
jenem Zeitpunkt "nicht gänzlich ausgeräumt waren". Laut
de Maizière gestalteten sich die von der Botschaft in
Washington mit US-Stellen geführten Verhandlungen über
die Modalitäten der Überstellung von Kurnaz in die
Bundesrepublik schwierig und zogen sich Monate hin, bis die
Entlassung aus Guantanamo schließlich im August 2006
erfolgte. Im Oktober 2002 hatten die Geheimdienstspitzen unter der
Verantwortung des damaligen Kanzleramtschefs und heutigen
Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) für den
Fall einer damals im Raum stehenden Freilassung des
Guantanamo-Häftlings eine Einreisesperre verhängt, weil
von Kurnaz eine Gefährdung ausgehen könne. Laut de
Maizière war zum Jahreswechsel 2005/2006 eine neue Situation
entstanden, die zu einer Abwägungsentscheidung zugunsten des
Türken geführt habe. Merkel habe erklärt, dass die
rechtsstaatlich problematischen Zustände in Guantanamo auf
Dauer nicht hinnehmbar seien. Wegen der innenpolitisch wachsenden
Kritik an den Verhältnissen in dem Gefangenenlager hätten
sich die USA zu Verhandlungen über eine Freilassung von Kurnaz
bereit erklärt. Zudem habe man dessen mehrjährige Haft
ohne Gerichtsverfahren berücksichtigen müssen. Angesichts
des "engen Deutschlandbezugs" des Bremers, so der
Kanzleramtsminister, habe bei einer Freilassung nur die
Rückkehr in die Bundesrepublik zur Debatte gestanden, da
Ankara den türkischen Staatsbürger nicht habe aufnehmen
wollen. Eine Rolle habe überdies gespielt, dass im November
2005 das Bremer Verwaltungsgericht entgegen der Auffassung der
früheren Regierung geurteilt habe, die Aufenthaltsberechtigung
von Kurnaz sei nicht erloschen. Wie de Maizière weiter
ausführte, war zum Jahreswechsel 2005/2006 die Situation
für eine Intervention gegenüber den USA im Interesse von
Kurnaz auch deshalb günstig, weil nach dem Regierungswechsel
Berlin und Washington die Chance zu einem Neubeginn in den
deutsch-amerikanischen Beziehungen gesehen hätten. Zu den auch
seinerzeit noch nicht völlig ausgeräumten
Sicherheitsbedenken bei Kurnaz sagte der Zeuge, diese
Einschätzung habe auf den aus dem Jahr 2002 stammenden
Erkenntnissen beruht, die von den beteiligten Behörden
allerdings unterschiedlich bewertet worden seien. Im Blick auf die
2002 gegen Kurnaz verhängte Einreisesperre meinte de
Maizière, er maße sich nicht an, Kritik an der
damaligen Regierung zu üben: "Ich bin froh, dass ich die
Entscheidung 2002 nicht treffen musste. Ich bin mir nicht sicher,
dass ich sie so getroffen hätte wie 2005/2006." Durch den
Auftritt des Kanzleramtsministers sahen sich FDP, Linkspartei und
Grüne in ihrer Kritik an der alten Regierung bestätigt.
Wolfgang Nescovic (Linkspartei) bezeichnete de Maizière als
"Zeugen der Opposition". Die Entscheidungen im Fall Kurnaz seien
eine Frage der "politischen Opportunität" und nicht der
Sicherheitsbedenken gewesen, Die Abwägung zugunsten des
Türken 2005/2006 hätte auch schon 2002 stattfinden
können. Max Stadler (FDP) erklärte ebenfalls, bei
entsprechendem politischen Willen hätte man schon früher
im Interesse von Kurnaz vorgehen können. De Maizière
habe Steinmeier widersprochen, nach dessen Aussage nicht daran zu
zweifeln gewesen sei, dass der Häftling im Falle einer
Freilassung in die Türkei hätte reisen können und
dass deshalb die Einreisesperre die Gefangenschaft in Guantanamo
nicht verlängert habe. Für Hans-Christian Ströbele
(Grüne) sind die Aussagen des Zeugen "wertvoll und glaubhaft".
SPD-Obmann Thomas Oppermann hingegen betonte, de Maizière
habe die von der Regierung im Herbst 2002 getroffene Entscheidung
nicht kritisiert. Erst 2005/2006 seien die USA zur Entlassung von
Kurnaz bereit gewesen.
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