„Der Trend geht zu kleineren Großparteien“
Die Volksparteien CDU, CSU und SPD, seit Gründung der Bundesrepublik die zentralen Parteien in der Bundesrepublik, verlieren zunehmend Anhänger. Dafür erstarken die kleinen Parteien: allen voran die FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Für den Parlamentarismusforscher Dr. Heinrich Oberreuter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau, sind das Anzeichen für einen grundlegenden Wandel des deutschen Parteiensystems.
SPD, CDU und CSU haben zusammen heute nur noch etwas mehr
als eine Million Mitglieder. Viele sehen darin eine schleichende
Erosion der Volksparteien. Ist dies aus Ihrer Sicht ein dauerhaftes
Phänomen? Und muss man gar mit einem endgültigen Abschied
von diesem Parteientypus rechnen?
Es geht ja nicht nur um die sinkenden Mitgliederzahlen, sondern auch um die Wählerstimmen. Die Volksparteien haben deutlich an Bindekraft verloren. Mitte der siebziger Jahre entschieden sich noch 91,2 Prozent der Wähler an den Wahlurnen für Union und SPD. Bei der letzten Bundestagswahl waren es nur noch 69 Prozent. Das ist ein Erosionsprozess – aber ob er unumkehrbar ist, lässt sich jetzt noch nicht sagen, wohl aber vermuten.
Was sind die Ursachen für diese
Entwicklung?
Es gibt zwei Gründe, die allerdings eng miteinander verbunden sind: Die sozialstrukturellen Traditionen von Parteizugewandtheit nehmen seit langem schon ab, die Milieus schwinden. Heute wählen zwar noch 75 Prozent der kirchentreuen Katholiken die Union und circa 60 Prozent der gewerkschaftsgebundenen Arbeiter die SPD, aber das macht bei beiden Volksparteien nur noch etwa zehn Prozent ihrer Gesamtwählerschaft aus. Zudem hat die Individualisierung in der Gesellschaft zugenommen. Die Großparteien überzeugten früher dadurch, dass sie möglichst viele Interessen vertreten haben. Heute ist eine Partei aus Sicht der Wähler – und derer, die sich politisch engagieren wollen – interessant, wenn sie ein engeres Themenspektrum vertritt, das den individuellen Interessen näher ist.
Manche fürchten, ohne die
Volksparteien fehle der Ort für den politischen Ausgleich von
unterschiedlichen Interessen. Welche gesellschaftlichen
Auswirkungen könnte ein möglicher Niedergang von SPD, CDU
und CSU Ihrer Meinung nach haben?
Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind, denke ich, nicht so entscheidend. Unterschiedliche Interessen gibt es und wird es weiterhin geben. Es ist ja eher umgekehrt, dass der gesellschaftliche Wandel auf das Parteiensystem einwirkt. Doch mit der Erosion der Volksparteien differenziert sich nun auch die Parteienlandschaft aus: Koalitionsbildungen werden erschwert und die politische Auseinandersetzung verschärft sich. Das politische System verliert so an Überschaubarkeit und Verlässlichkeit – vielleicht auch an gewohnter Stabilität. Interessenausgleich wird es dennoch weiterhin leisten.
Mit dem Wandel des Parteiensystems wird
sich also auch der Politikstil ändern?
Sicher, der hat sich längst verändert und wird sich weiter ändern – allein schon durch die wenig segensreichen Auswirkungen der Fernsehdemokratie, die eher aufreizende Positionen begünstigt, mit denen man mobilisieren kann, als ausgefeilte Argumentationsstrukturen.
Was bedeuten solche Trends für die
Regierungsbildung?
Der wichtigste Punkt bei der Koalitionsbildung ist die Kommunikationsfähigkeit der Parteien untereinander. Sie könnte bei wachsenden Unterschieden erschwert werden, aber es sind im Grunde keine Weltanschauungskämpfe in Sicht, die Kompromisse torpedieren. Bislang haben wir noch keine Partei im Bundestag erlebt, die nicht regierungsfähig und koalitionswillig war. Wenn sich der Erosionsprozess weiter fortsetzt, wird es allerdings Koalitionen geben, mit denen man bislang nicht gerechnet hat – die so genannte Jamaika-Koalition aus Union, FDP und den Grünen könnte dann durchaus eine Möglichkeit sein, andere auch.
Ist das zu
begrüßen?
Natürlich, unter den gewandelten Umständen. Je koalitionsfähiger die Parteien untereinander sind, umso positiver! Es steht doch nicht im Grundgesetz, dass das Parteiensystem der Bundesrepublik nur dann stabil ist, wenn es aus fünf Parteien besteht... Im ersten Bundestag mit seinen gewaltigen Aufgaben saßen immerhin zehn.
Dennoch hätte es doch Auswirkungen
auf die Stabilität, wenn es im deutschen Parteiensystem
irgendwann mehr kleine und weniger größere Parteien
gäbe.
Es kommt gewiss auch darauf an, wie viele Parteien es gibt. Vor allem aber ist ihre Kommunikations- und Koalitionsfähigkeit sowie ihre Affinität zum Verfassungskonsens entscheidend. Ist beides gegeben, würde mir nicht bange. Wenn allerdings extremistische Parteien zunähmen und sich Zehn-Prozent-Parteien am rechten Rand etablierten, dann hätten wir eine völlig andere Situation.
In Skandinavien etwa hat man Erfahrung
mit vielen kleinen Parteien, es kommt dort sogar manchmal zu
Minderheitsregierungen. Ist das demnächst auch in Deutschland
denkbar?
Vom traditionellen Standpunkt aus kommen mir beim Gedanken an eine Minderheitsregierung Bedenken. Die Skandinavier haben eine andere politische Kultur und Geschichte. In Deutschland, glaube ich, wären sowohl die Parteien als auch die Wähler ziemlich verunsichert, wenn es zu einer Minderheitsregierung käme. Aber man könnte auch argumentieren, dass dann die Parteien einen offeneren Diskurs führen und stärker aufeinander zugehen müssten: ein an sich unpolitisches Argument.
Wie wird sich die Parteienlandschaft in
den nächsten Jahren entwickeln? Wie stehen aus Ihrer Sicht die
Chancen, dass sich weitere Parteien etablieren?
Der Trend zu mittleren oder kleineren Großparteien wird sich auf absehbare Zeit stabilisieren und nicht so schnell wieder verschwinden. Die Grünen haben sich etabliert, die Linkspartei ebenfalls, die FDP ist stärker geworden. Langfristig ist es auch nicht auszuschließen – obwohl die politische Kultur dem entgegensteht – dass eine rechte Partei in den Bundestag einzieht. Auf Länderebene waren solche Parteien zwar bislang nicht dauerhaft erfolgreich, aber ob wir vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der Probleme der sozialen Sicherungssysteme nicht doch irgendwann die Etablierung einer rechtsextremen Partei im Parteienspektrum erleben müssen, ist für mich eine offene Frage.
Würden Sie Wählervereinigungen als einen Trend
bezeichnen?
Ja, auf kommunaler Ebene haben die Freien Wähler etwa 2008 in schleswig-holsteinischen Städten wie Flensburg und Lübeck zweistellige Wahlergebnisse erzielt – und das, obwohl sie dort keine Tradition und Vorgeschichte hatten. In Bayern, wo dies der Fall ist, sind die Freien Wähler beim zweiten Anlauf in den Landtag eingezogen. Und der Grund dafür ist nicht nur die Krise der CSU. Wir haben es schließlich noch mit einem anderen Trend zu tun: einer wachsenden Wahlabstinenz, die auch mit der Distanz der Bürger zu Parteien und Politikbetrieb erklärt werden kann. Dieses Potenzial könnten die Wählervereinigungen durchaus für sich nutzen.
Sie gehen davon aus, dass
Wählervereinigungen künftig mehr Wähler
mobilisieren?
Es ist vorstellbar, dass die Freien Wähler – als organisierte Parteienskepsis oder besser: als organisierte Parteienverdrossenheit –irgendwann im Bund eine Chance haben, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Letztendlich hängt aber ihr Erfolg davon ab, ob es ihnen gelingt, sich zu professionalisieren, zu institutionalisieren und zu parlamentarisieren. Dagegen sträuben sie sich. Als der Zwitter, der sie gegenwärtig sind, werden sie aber nicht überleben können.
Zur Person:
Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter (geboren 1942) ist Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau und Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing. Er studierte Politik- und Kommunikationswissenschaft, Geschichte und Soziologie an der Universität München und arbeitete am dortigen Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft als Wissenschaftlicher Assistent. Von 1978 bis 1980 war er Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, von 1991 bis 1993 Gründungsdekan für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Technischen Universität Dresden. Von ihm stammen zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich der Parlamentarismusforschung, politischen Bildung, Verfassungs- und Zeitgeschichte sowie der Kommunikationspolitik.