Abstimmung über Brandts Ostpolitik
Unter dem Slogan „Wandel durch Annäherung“ beschreiten Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) seit ihrem Wahlsieg 1969 neue Wege in der Deutschland- und der Ostpolitik. Doch sind ihre Bemühungen um Entspannung im Verhältnis zu den Staaten des Warschauer Paktes nicht unumstritten: Die von Anfang an knappe Mehrheit der sozialliberalen Koalition im Parlament schwindet zusehends und führt im November 1972 zu vorgezogenen Bundestagswahlen. Jetzt liegt es in der Hand der Wählerinnen und Wähler, ob die Regierung Brandt-Scheel den eingeschlagenen außenpolitischen Kurs fortsetzen kann.
November 1972: Der Wahlkampf für die vorgezogenen Wahlen zum
siebten Deutschen Bundestag geht in die heiße Phase. Die
sozialliberale Regierungskoalition schickt Bundeskanzler Willy
Brandt (SPD) als Spitzenkandidat ins Rennen. Die Unionsparteien,
seit 1969 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik in der
Opposition, haben sich nach internem Machtkampf für Rainer
Barzel, CDU-Parteichef und Vorsitzender der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, entschieden.
Zwei Konkurrenten um das mächtigste Amt im Staat, wie sie ungleicher kaum sein konnten: Hier der hoch angesehene Friedensnobelpreisträger, der selbstbewusste Architekt der Ostverträge – „ein Politiker, der seiner Mission gewiss ist, ein Parteiführer, der sich seines Stammplatzes in künftigen Geschichtsbüchern bereits sicher glaubt“, wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wenige Tage vor der Wahl am 19. November 1972 über Willy Brandt schreibt.
Wahlausgang: unsicher
Dort der in der Bevölkerung wenig beliebte Oppositionsführer, der seit dem Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums gegen Brandt im April 1972, bei dem er sich zum Bundeskanzler wählen lassen wollte, angeschlagen ist und sich der rückhaltlosen Unterstützung aus den eigenen Reihen nicht sicher sein kann.
Trotz dieser ungleichen Ausgangslage ist bis zum Wahlabend keineswegs sicher, ob Brandt die Koalition mit der FDP unter ihrem Vorsitzenden, Bundesaußenminister Walter Scheel, wird fortsetzen können. Denn hinter dem Regierungsbündnis liegen harte Zeiten. Die Deutschland- und Ostpolitik von Bundeskanzler Brandt ist nicht unumstritten, stellt sie doch einen Bruch mit Prinzipen westdeutscher Außenpolitik dar, die lange Zeit als unumstößlich galten.
Umstrittene Ostverträge
So verzichtet die Bundesrepublik in dem im August 1970 geschlossenen Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion auf ihren Anspruch, für alle Deutschen, also auch für die Landsleute in der DDR, zu sprechen (Alleinvertretungsanspruch), und bestätigt die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen wie etwa der Oder-Neiße-Grenze zwischen der DDR und Polen.
Aus Protest gegen diesen außenpolitischen Kurs der Bundesregierung wechseln im Lauf der Wahlperiode mehrere Abgeordnete wie etwa der FDP-Mann Erich Mende ins konservative Lager. Die von Anfang an knappe Mehrheit der sozialliberalen Koalition schmilzt daher zusehends zusammen.
Brandt verliert die Vertrauensfrage
Als am 28. April 1972 über den Etat des Bundeskanzleramtes abgestimmt wird, kommt es schließlich zur Stimmengleichheit zwischen Regierung und Opposition. Die Koalition ist handlungsunfähig. Am 20. September 1972 stellt deshalb Brandt im Bundestag die Vertrauensfrage, die er absichtlich verliert – die Kabinettsmitglieder enthalten sich der Stimme –, um so den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann (SPD) löst daraufhin den Bundestag auf und ruft die ersten vorgezogenen Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik aus.
An den darauf einsetzenden Wahlkampf denken manche Zeitgenossen noch Jahre später voller Begeisterung zurück. So erinnert sich die Publizistik-Professorin und Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, Elisabeth Noelle-Neuman, 1976 in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Mit 1972 wird sich so bald kein Wahlkampf mehr vergleichen lassen. Mit seiner knisternden Erregung, mit der Hochstimmung wie bei einem großen Fußballspiel. Im Jahre 1972 – und auch schon bei der Bundestagswahl 1969 – schienen alle Menschen wie von einem Fieber ergriffen. 50 Prozent erklärten, sich für Politik zu interessieren. Man muss sich erinnern: Zwischen 1950 und 1965 hatten die Frage: ‚Interessieren Sie sich für Politik?’ nur zehn bis 25 Prozent bejaht.“
Mit Buttons für die Kandidaten
In der Tat engagieren sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem Bundestagswahlkampf wie nie zuvor mit Buttons, Aufklebern und Anzeigen für ihre politische Überzeugung. In der Mobilisierung ihrer Anhänger liegt die SPD Umfragen des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts zufolge, die kurz nach der Wahl veröffentlicht werden, weit vor der CDU.
Zudem unterstützen zahlreiche Intellektuelle wie die Schriftsteller Günter Grass und Siegfried Lenz den amtierenden Bundeskanzler, auf dessen Person der Wahlkampf der Sozialdemokraten zugeschnitten ist. „Willy wählen“ und „Auf den Kanzler kommt es an“ sind eingängige SPD-Slogans, die bis heute ihren festen Platz in der kollektiven Erinnerung haben. Doch auch die Union bemüht sich um peppige Töne und Bilder: „Black is beautiful“ steht in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund auf einem ihrer Wahlplakate.
Erfolg der sozialliberalen Koalition
Der lebhaft und emotional geführte Wahlkampf zeigt Wirkung: 91,1 Prozent der Wahlberechtigten geben ihre Stimme ab, das ist bis heute Rekord. Erstmals dürfen aufgrund einer Änderung des Wahlrechts von 1970 auch die 18- bis 20-Jährigen an der Wahl teilnehmen, die zu einem großen Erfolg der sozialliberalen Koalition wird.
Die SPD kommt auf 45,8 Prozent der Wählerstimmen und erringt damit 230 Sitze, das sind sechs mehr als 1969. Auch ihr Koalitionspartner F.D.P. kann hinzugewinnen: Er erreicht 8,4 Prozent und damit 41 Sitze, das ist ein Zugewinn von elf Sitzen. Die Unionsparteien kommen gemeinsam auf 44,9 Prozent der Stimmen. Im Bundestag verfügen sie damit über 225 Sitze, 17 weniger als zuvor.