Eisig kalt ist es an diesem Januarvormittag. Zwölf Jugendliche stehen in der Freilichtausstellung der Berliner Gedenkstätte "Topographie des Terrors" und betrachten eine Schautafel. Manche kuscheln sich tief in die Kapuzen ihrer Jacken, aber trotz des ungemütlichen Wetters sind alle konzentriert. Vom Schwarzweißfoto schauen ihnen Häftlinge des Konzentrationslagers Sachsenhausen entgegen, die in gestreifter Kleidung zum Appell angetreten sind. Im Januar 1941 muss es ähnlich kalt gewesen sein, man sieht Schnee auf der Aufnahme. Aber mit dem Bild stimme etwas nicht, sagt die Historikerin Katja Lucke: "Wenn ihr genau hinschaut, merkt ihr, dass viele Häftlinge winterlich gekleidet sind". Manche tragen Wollmäntel, feste Schuhe und Handschuhe. "Das ist nicht typisch für die Situation in den Konzentrationslagern", sagt sie. Das Bild aus den Beständen des Deutschen Roten Kreuzes könnte gestellt sein und soll deshalb bald ausgetauscht werden.
Die jungen Frauen und Männer vor den Schautafeln sind Teilnehmer der Jugendbegegnung, die der Deutsche Bundestag jährlich zum "Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus" am 27. Januar organisiert. Eine Woche lang setzen sie sich mit den Lebensgeschichten von Opfern und Tätern auseinander. Ein kritischer Umgang mit den Quellen gehört dazu, wie eben mit der Schautafel aus Sachsenhausen. Dabei haben sich die meisten Teilnehmer auch abseits des Schulunterrichtes mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt: Viele der 80 Jugendlichen haben bereits einen Freiwilligendienst bei einer Gedenkstätte absolviert oder - wie die Schüler der Jüdischen Oberschule Berlin - eine besondere Beziehung zum Gedenktag. Die Teilnehmer kommen dieses Jahr aus Deutschland, Frankreich, Polen, Tschechien, der Ukraine und Israel - aus Ländern also, die den nationalsozialistischen Terror jeweils auf unterschiedliche Weise erlebt haben. Auch diese Perspektiven werden im Seminar diskutiert. "Viele Teilnehmer kennen durch ihre Arbeit bei einer Gedenkstätte einen Aspekt der NS-Geschichte ganz genau", sagt Kay Wahlen. Er ist der Hauptorganisator der Jugendbegegnung im Bundestag. "Hier verstehen sie dann den großen Zusammenhang."
Nach einem Vorbereitungstag in Berlin sind die Teilnehmer dieses Jahr zur Gedenkstätte im französischen Oradour-sur-Glane gefahren. In Deutschland kennen viele nicht einmal den Namen, doch "in Frankreich ist Oradour das Symbol für das Leid der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg", erklärte die 21-jährige Claire Brun. Unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung zerstörte eine SS-Division im Juni 1944 das ganze Dorf nahe Bordeaux, die meisten Einwohner - mehr als 600 Menschen - wurden ermordet. Nach dem Krieg wurden die Ruinen als Mahnmal stehengelassen, eine Gedenkstätte eingerichtet. Claire Brun arbeitet dort heute als Historikerin, während der Deutsche Mathias Althaler, 20, in Oradour-sur-Glane gerade seinen Zivildienst absolviert.
Die Jugendbegegnung bringt nicht nur jedes Jahr unterschiedliche Nationen, sondern auch Menschen mit unterschiedlichem beruflichen Hintergrund zusammen. Andreas Barsukow, 24, beispielsweise hat beruflich wenig mit Geschichte zu tun: Er ist Krankenpfleger. Seine Firma kooperiert mit der Gedenkstätte in Auschwitz, so dass Barsukow zwei Wochen lang bei der Renovierung der Museumsanlage mitarbeitete. Warum er sich als Freiwilliger dafür meldete? "Ein Kumpel von mir meinte immer, es sei doch alles nicht so schlimm gewesen damals", erzählte er. "Ich will einfach mehr über diese Zeit wissen."
Nach dem Besuch in Frankreich und der Berliner Gedenkstätten nehmen die Jugendlichen an der Gedenkstunde des Bundestages teil. Bei einer anschließenden Diskussion mit Bundestagspräsident Norbert Lammert fragt er die Teilnehmer, wie sie die Idee fänden, bei der Gedenkstunde in Zukunft auch einen Jugendlichen sprechen zu lassen. Den meisten gefällt diese Idee.