Ostdeutschland
Claudia Ruschs Entdeckungsreise zwischen Zinnowitz und Zwickau
Wer in Claudia Ruschs "Aufbau Ost" knapp 20 Jahre nach dem Verschwinden der DDR eine Bilanz der Erfolge und Probleme erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen ist der Leser eingeladen, ostdeutsche Alltagsbesonderheiten samt ihrer dahinter liegenden Vergangenheitsräume zu durchstreifen. Man kann dieses Buch durchaus als Fortsetzung von Claudia Ruschs zu Recht hoch gelobtem Debüt "Meine freie deutsche Jugend" (2003) lesen. Ausgehend von ihrer Biografie führte sie darin mit einer selten zu lesenden Klarheit und Leichtigkeit ins Innenleben der DDR. In ihrem neuen Band begibt sich die Autorin nun auf so persönliche wie eigenwillige Reportageerkundungen in alle 15 ehemaligen Bezirke von Rostock bis Suhl.
Ihre sachlich kritische Distanz zu SED-Herrschaft und Ostalgie erklärt sich bereits aus der ersten Geschichte. Die beginnt, wo "Meine freie deutsche Jugend" endet - bei Recherchen über ihren Großvater. Der saß, als Vorsitzender des Rates des Kreises seiner Funktion enthoben, in der Stasi-U-Haft in Rostock, weil er sich nicht gleichschalten ließ. Nun versucht die Enkelin, die Hintergründe und genauen Todesumstände zu ergründen. Doch die bleiben unklar, bis es durch einen außerordentlichen Zufall zu einer emotional aufwühlenden Begegnung mit jenem Mithäftling kommt, in dessen Armen er 1967 starb.
Diese Geschichte wird zu einem Schüsseltext. Durch ihren Großvater findet sie sich in ihrer Identität ebenso bestärkt wie in ihrer Position gegenüber einem SED-Staat, in dem ihre Eltern mit dem Regimekritiker Robert Havemann und seiner Frau Katja befreundet waren, und in dem sie als Zehnjährige mit dem Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" die Konfrontation mit der Macht erlebte.
Hinter der Eindringlichkeit dieses Großvatertextes erscheinen die 14 übrigen Kapitel beinahe wie plaudernde Gegenwarts- und Vergangenheitsvergewisserungen. Nur wenn Claudia Rusch in ihrer DDR-Kritik Zahlen und Fakten nennt, verfällt sie bisweilen in eine didaktischen Art wie gegenüber einem virtuellen Widerpart.
Abgesehen davon beweist sie einmal mehr ihr außerordentliches Erzähltalent. So wird ihr die Schweriner Ausstellung "Über die Ostsee in die Freiheit" mit aller innewohnenden Dramatik zugleich zum Anlass, über die Freiheit ihrer erste Lesereise nach Malmö zu erzählen. Die wiederum mündet in eine wunderbare Realsatire über die Tücken schwedischer Fahrscheinautomaten. In Frankfurt/Oder diskutiert sie mit Freunden, angeregt durch TV-Kochshows, längst vergessene Ernährungsgewohnheiten und Versorgungslagen in der DDR. In Leipzig beleuchtet sie kurzweilig die Hintergründe der DDR-Sprachabgrenzung und Wortneuschöpfungen. Wer weiß schon noch, was eine "Komplexannahmestelle" war? Wir erfahren: Eine Reparaturannahme vom defekten Bügeleisen bis zum kaputten Schuh, nur "Selbstwertprobleme wurde man dort leider nicht los".
Claudia Rusch nimmt ihre Leser mit auf die vor 1990 undenkbaren und nun durchgängigen Radwanderwege vom Zittauer Dreiländereck bis zum Stettiner Haff oder zum architektonisch gelungenen Rückbau von "Ha Neu", der einst erdrückend tristen Schlafstadt Halle Neustadt. Dagegen findet man sich in der Porzellanstadt Kahla bei Jena - einst einer der größten Haushaltsporzellanhersteller, "von der Treuhand zielsicher in den Konkurs geführt" und heute ein mittelständisches Unternehmen - zurückversetzt ins triste DDR-Grau und in eine Gespensterstadt, die seit 1990 fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren hat. Im Bezirk Dresden macht sie Lust auf eine Reise ins Oberlausitzer Örtchen Herrnhut mit seinen von der evangelischen Brudergemeinde erfundenen, heute in alle Welt exportieren Weihnachtssternen.
Claudia Rusch macht neugierig, den Osten zu entdecken und seinen Mentalitätsgeschichten und Eigenarten bis in die Gegenwart nachzuspüren.
Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009; 192 S., 16,95 ¤