GROSSBRITANNIEN
Der 46-jährige John Bercow soll der Mutter der Parlamente wieder Respekt verschaffen. Doch der neue Präsident des Unterhauses ist selbst umstritten
Statt einer langen Rede beließ es der neue "Speaker" bei ein paar Verhaltensermahnungen, als er am 23. Juni, einen Tag nach seiner Wahl, sein hohes Amt als Führer der Britischen Legislative übernahm - das dritthöchste im Staat nach Königin und Premierminister. Die ehrbaren Mitglieder möchten sich doch bitte auf eine Frage beschränken, Minister ihre Reden auf ein "vernünftiges Maß" beschränken und man möge mit dem ständigen Lärmen aufhören. Redner sollten "in einer Atmosphäre ruhiger, vernünftiger Debatte" gehört werden. Dann rief der 46-jährige John Bercow, von dem die wenigsten Briten zuvor etwas gehört hatten, unter dem eichengeschnitzten Baldachin des Speaker Throns "Order, order" und die Sitzung war eröffnet.
Nüchtern begann ein entscheidendes neues Kapitel der britischen Parlamentsgeschichte. Einziges Reformsignal war, dass Bercow auf Schnallenschuhe und Seidenstrümpfe verzichtete. Die Rosshaarperücke ist schon länger eingemottet, nun präsentiert sich der Speaker auch ohne seine Halskrause und trägt als Zeichen der Würde nur einen schwarzen Scholaren Talar. In der Prozession zum Oberhaus, wo er sich von den Stellvertretern der Königin den Amtssegen abholte, sah der jüngste Speaker seit 170 Jahren mit seiner bunten Krawatte wie ein ehrgeiziger Buchhalter aus.
Viele hatten sich mehr erhofft. Nach dem Spesenskandal, der die Legitimität des ältesten Parlaments der Welt in den Grundfesten erschütterte, steht dem Unterhaus ein schwieriger Rehabilitierungsprozess bevor. Bercow selbst versprach einen "klaren Bruch" mit der Vergangenheit, wenngleich er im Spesenskandal selbst unter Beschuss geraten war. Er hatte zunächst keine Kapitalsteuern auf einen Hausverkauf bezahlt. In seiner Wahlrede erklärte er dann: "Ich möchte eine Agenda für Reform, Erneuerung, Revitalisierung umsetzen und die Kernwerte dieser großen Institution im Kontext des 21. Jahrhunderts bestätigen." Das war vage, klang aber gut. "Er hätte sofort darlegen müssen, was im Haus verändert werden muss", kritisierte der Labour-Abgeordnete Frank Field den Einstand Bercows. Nie mehr sei ein Speaker so mächtig wie im Moment der Amtsübernahme.
Bercow steht vor schwierigen Aufgaben. Einmal muss er sich selbst und dem Amt des Speakers Autorität verschaffen. Das wird nicht leicht, denn die erste geheime Wahl eines Speakers ließ den traditionellen Konsens vermissen, mit dem der Parlamentschef als Vertreter aller Parteien bestimmt wird. Tory-Parteichef David Cameron musste nach der Wahl seine Fraktion förmlich zum Beifall zwingen. Bercow ist Konservativer, gilt aber als Renegat. Er wurde in einem gegen die Tories gerichteten Manöver fast ausschließlich mit Stimmen der Labourpartei gewählt. "Wir haben einen Speaker, der als spalterisch betrachtet wird, das ist die schlimmste Option", kommentierte der Tory-Abgeordnete Liam Fox in einer ungewöhnlichen Kritik nach der Wahl. Schon wird spekuliert, ob Bercow nach einem Wahlsieg der Tories ausgetauscht wird.
Dabei ist ein Speaker eigentlich sakrosankt. Er ist, einmal im Amt, zur Unparteilichkeit und zur Unabhängigkeit von der Regierung verpflichtet und hat vor allem die Aufgabe, die Ordnung im oft recht turbulenten Abgeordnetenhaus zu wahren. Usus ist es, dass andere Parteien bei einer Unterhauswahl im Wahlkreis des Speakers keine Gegenkandidaten aufstellen.
Die ganze Debatte zeigt, wie sehr das Amt des Speakers seit dem Rausschmiss von Bercows Vorgänger Michael Martin, dem ersten Speaker-Sturz seit 1695, gelitten hat. Bercow muss den Ruf des Parlaments und der großen Parlamentsparteien nach dem Spesenskandal wieder herstellen helfen. Die Europawahl resultierte in Wahlverweigerung und dem Erfolg von Splitter- und Außenseiterparteien, und zeigte, wie angeschlagen das politische System wirklich ist. Zum ersten Mal hat ein Speaker nun eine wahre "Public Relations-Aufgabe" nach außen, statt nur für den reibungslosen Ablauf der parlamentarischen Geschäfte zu sorgen. Seit dem Spesenskandal mit seinen peinlichen und lächerlichen Enthüllungen steht nicht nur das Parlament, sondern die ganze britische Führungselite in der Kritik. Es geht um die Naivität von Politikern, die in der Gemütlichkeit ihres parlamentarischen "Gentlemen's Club" die neuen Realitäten ignorierten. Die Parlamentarier haben es vernachlässigt, die Interessen ihrer Wähler gegenüber einer übermächtigen Exekutive zu vertreten.
Deshalb ist Bercows wichtigste Aufgabe, die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive wieder geltend zu machen. Britische Verfassungsexperten beobachten seit Jahren, wie das Parlament Macht verliert - einmal nach Brüssel, wo inzwischen viele Gesetze gemacht werden, aber auch an die Regierung und den mächtigen Premier. Margaret Thatcher war die erste, die präsidentiale Attitüden entwickelte, Tony Blair beschleunigte den Trend. Über den "Leader of the House", der im Kabinett sitzt, und die immer mächtigeren Fraktionseinpeitscher, die "Whips", kontrolliert die Regierung das Parlament. Bei der Besetzung der Ausschüsse, bei der Bestimmung der Tagesordnung, bei der Initiierung von Gesetzesvorhaben, beim Zeitplan des Gesetzgebungsprozesses - überall gibt die Regierungsmaschine den Ton an. "Fraktionszwang", früher nur in entscheidenden Fällen eingesetzt, ist zur Regel geworden. Empfehlungen von Ausschüssen werden ignoriert, politische Programme am Parlament vorbei zuerst in den Medien vorgestellt. Mag das Unterhaus die Welt durch seine hohe Redekultur und sein antagonistisches Zwei-Fronten System viele beeindrucken - hinter der erhabenen Fassade verbirgt sich eines der schwächsten Parlamente der westlichen Welt.
Viel wurde diskutiert, was zuerst kommen muss - die Selbstreinigung des Parlaments und eine Neuwahl, oder die Reform der ungeschriebenen Regeln. Die Parteiführer nützen die Krise für ihre Zwecke. Torychef David Cameron nimmt die Spesenkrise als Anlass, totes Holz aus der Toryfraktion heraus zu schneiden. Er drängt auf eine Neuwahl, bei der Abgeordnete, die über die Stränge schlugen, gar nicht mehr kandidieren dürfen. Dann erst soll ein neues Parlament -und möglicherweise ein neuer Speaker - die Reformen einleiten. Premier Brown geht den anderen Weg. Er ist mit Reformvorschlägen vorgeprescht, die dem Parlament das Recht zur Selbstregulierung wegnehmen und ein unparteiisches Gremium zur Festsetzung von Diäten einsetzen würden. Wer dieses Gremium kontrollieren und bestimmen soll, ist unklar.
Noch sind die Parlamentarier gelähmt. Aber wird das höchste Gremium im Land, das verfassungstechnisch oberstes Gericht ist und seit 1689 niemandem, nicht einmal der Queen, Rechte über sich eingeräumt hat, wirklich das eherne Recht auf Selbstregulierung einem anonymen Gremium abtreten? Bercows Aufgabe ist klar: Wenn er es mit Reformen ernst meint, muss er den Reformprozess schleunigst der Exekutive und den Parteiführern aus der Hand nehmen und ins Zentrum der parlamentarischen Debatte rücken. Er, und durch ihn das Parlament, muss zum Wortführer der neuen politischen Moral werden.