Die Volksvertreter haben den Aufstand gewagt, und die Krise ist da. Mit 98 gegen 90 Stimmen setzte die Parlamentarische Versammlung des Europarats am 22. Juni die Wahl des neuen Generalsekretärs spektakulär von der Tagesordnung ab - ein Protest gegen die das Abgeordnetenhaus brüskierende Kandidatenvorauswahl durch das Ministerkomitee, das den Volksvertretern mit Wlodzimierz Cimoszewicz (Polen) und Thorbjörn Jagland nur zwei Ex-Regierungschefs als Bewerber präsentiert hatte. Die beiden Kandidaten aus den Reihen des Abgeordnetenhauses hatte das Diplomatengremium, in dem die Straßburger Botschafter der 47 Mitgliedstaaten sitzen, hingegen von der Liste gestrichen: den Belgier Luc van den Brande, Fraktionschef der Christdemokraten, und den Ungar Mathias Eörsi, Vorsitzender der Liberalen.
Von September an wird der Staatenbund nur eine provisorische Führung haben, da der britische Generalsekretär Terry Davis Ende August ausscheidet. Das vorschlagsberechtigte Ministerkomitee will mit Cimoszewicz oder Jagland als Nachfolger einen Promineten durchpauken, dessen Reputation den Europarat gegenüber der mächtigen EU-Konkurrenz stärkt. Parlamentspräsident Lluis Maria de Puig sieht indes die Glaubwürdigkeit des Staatenbunds gefährdet, weil entgegen bisherigem Brauch die Volksvertretung nicht bei der Kandidatenauswahl beteiligt worden sei und der Europarat so jene "demokratischen Standards" verletze, die er den Mitgliedsländern abverlange.
Ob die Wahl des Generalsekretärs bei der Parlamentssitzung im Herbst klappt, ist völlig offen. Der slowenische Außenminister Samuel Zbogar als Chef des Ministerkomitees stellt zwar für die Zukunft "neue Wahlverfahren" in Aussicht. Doch auch er will an den beiden Ex-Regierungschefs als Bewerber festhalten.