TÜRKEI
Ilisu-Staudamm soll trotz aller Proteste gebaut werden
Eine Brise streicht über den Festungshügel von Hasankeyf, 100 Meter über dem Tigris. Senkrecht fallen die Kalksteinklippen neben dem steinigen Pfad ab in den Fluss; aus der Kleinstadt unten dringt entfernt das Krähen eines Hahns empor. Vom steilen Aufstieg keucht selbst Bekir, der 19-jährige Fremdenführer aus Hasankeyf. Der junge Mann muss erst einmal durchatmen, bevor er die Bauwerke benennen kann, die von hier aus zu überblicken sind: die mittelalterliche Brücke im Tigris, die ayyubidische Koc-Moschee, die Grabmäler der Akkoyunlu und der Seldschuken.
Lange werden sie wohl nicht mehr zu besichtigen sein, sagt Bekir und weist auf das Minarett der 600 Jahre alten El-Rizk-Moschee, auf dessen gerundeter Kuppe gut 50 Meter über dem Fluss ein Storchennest balanciert. "Wenn der Ilisu-Damm gebaut wird, dann wird das Wasser bis zu den Lautsprechern an diesem Minarett steigen", erklärt er. "Die Unterstadt von Hasankeyf wird komplett im Stausee verschwinden: die Brücke, die Grabmäler und Moscheen, alles. Nur der Gipfel des Festungshügels, wo wir jetzt stehen, der wird zunächst noch aus dem Wasser aufragen, aber auch nicht mehr lange. Denn der weiche Kalkstein wird vom Wasser unterspült werden und einstürzen. Nichts von all dem hier wird bleiben."
Wird eine der ältesten Städte der Menschheitsgeschichte bald in den Fluten des Ilisu-Stausees versinken? Das hängt nicht zuletzt von Deutschland, Österreich und der Schweiz ab, die derzeit ihre Exportkreditgarantien für den Staudamm überdenken. Weil die Türkei nicht genug zum Schutz der Kulturgüter, aber auch der Menschen und der Umwelt im Flutungsgebiet getan hat, setzten die Regierungen in Berlin, Wien und Bern die Kreditgarantien zu Jahresbeginn bereits aus. Wenn Ankara bis zum 6. Juli nicht glaubwürdig nachgebessert hat - und danach sieht es nicht aus -, dann dürften die europäischen Kreditgeber endgültig aussteigen. Damit rechnet die türkische Regierung inzwischen offenbar selbst: Der Damm werde notfalls auch ohne die Europäer gebaut, kündigte Ankara an.
"Rettet Hasankeyf", fordern deshalb immer mehr Intellektuelle, Künstler, Politiker und besorgte Bürger in der Türkei wie auch in Europa. Hasankeyf und das Tigristal sollten zum UNESCO-Welterbe erklärt werden, verlangt eine Petition türkischer Umweltschützer, die bisher von fast 20.000 Menschen unterzeichnet wurde. Der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk setzte seinen Namen kürzlich unter den Aufruf. Auch der Schriftsteller Yasar Kemal und Popstar Tarkan zählen zu den prominenten Unterzeichnern auf türkischer Seite. In Deutschland wird die Petition unter anderem von der Bundestagsfraktion der Grünen sowie von Politikern der SPD und der Linksfraktion unterstützt.
"Wenn Hasankeyf untergeht, dann wird uns das die Menschheitsgeschichte nicht verzeihen", sagt Abdulvahaf Kusen, der Bürgermeister von Hasankeyf, einer der Erstunterzeichner der Petition. "Hasankeyf ist ein einziges Open-Air-Museum mit den Spuren von 10 oder gar 15 Zivilisationen. Solch eine historische Stätte zu vernichten, das wäre ein riesiger Verlust für die Menschheit."
In der Tat kommt der Aufstieg auf den Festungshügel von Hasankeyf einem Schnellkurs in der Geschichte von Mesopotamien gleich. "Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier schon vor Beginn unserer Zeitrechnung", doziert Bekir beim Aufbruch zur Klettertour. "In den Jahrhunderten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantinern beherrscht, dann von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuken und den Osmanen."
Für einen Blick auf die alte Seidenstraße hält der Führer bei 60 Höhenmetern inne. Von der Klippe aus sind im Fluss die Überreste der größten Steinbrücke des Mittelalters zu sehen, der vermutlich ersten Mautbrücke der Welt, wie Bekir sagt. "Die ist ursprünglich von den Assyrern erbaut worden, 1.000 Jahre vor Christus, aber die jetzigen Überreste stammen aus artukidischer Zeit", erzählt der Führer. Auf eine mittelalterliche Münzerei verweist Bekir beim Aufstieg, und auf einen Palast, der von den Artukiden, einer turkmenischen Dynastie aus dem 11. und 12. Jahrhundert, für eine Prinzessin aus Mardin erbaut wurde.
Eine Überraschung wartet bei 80 Höhenmetern: Unverkennbar eine kleine Basilika ist es, in die Bekir da hineinschlüpft. "Dieser Bau ist als Kirche errichtet worden, um das Jahr 363", bestätigt der Führer. Denn Hasankeyf war Bischofssitz im byzantinischen Reich. Die Stadt dürfte sogar schon christlich gewesen sein, als in Konstantinopel noch Christen verfolgt wurden.
Bergab geht es auf dem Rückweg auf einem mit Steinen gepflasterten Weg, der von Höhlen gesäumt ist. "Die Höhlen hier an diesem Weg waren noch bis vor kurzem Läden und Geschäfte", erzählt Bekir, "denn dies war bis in die 1970er Jahre hinein noch die Marktstraße von Hasankeyf." Andere Höhlen dienten als Wohnungen, Ställe und Lagerräume. Rund 7.000 solcher Höhlen durchlöchern den Kalkstein von Hasankeyf wie einen Schweizer Käse. Heute wohnen nur noch zwei oder drei Familien darin. Die meisten Einwohner sind in den 70er Jahren aus den Höhlen in die Neustadt hinunter gezogen, als der Staat ihnen dort Häuser und Straßen baute. Während des Krieges gegen die PKK wurden die Höhlen später ganz geräumt - die Sicherheitskräfte befürchteten, Rebellen könnten sich dort einnisten.
Heute treiben sich vor allem Hühner, Schafe und Ziegen in den Höhlen herum, in manchen liegen auch Säcke gestapelt oder Feuerholz. "Weil die Hasankeyfer ja bis vor 30 Jahren noch darin wohnten, hat jede Höhle noch immer ihren Besitzer", erzählt Bekir. "Viele Leute nutzen sie, um Viehfutter oder Lebensmittel zu lagern, andere halten ihre Hühner hier." Aber nicht mehr lange, fürchtet der junge Mann: Wenn der Ilisu-Staudamm fertig ist, werden diese Höhlen im Stausee versinken. Die Besitzer der Höhlen werden auch ihre Häuser in der Stadt wieder verlassen und in die Neubausiedlung umziehen müssen, die der Staat am anderen Tigrisufer für sie bauen will.
Vom Gipfel des Festungshügels aus weist Bekir auf die Berge, die das Tigristal begrenzen: "Da drüben am Fuß des Raman-Berges soll die neue Siedlung für Hasankeyf gebaut werden." Schon am 30. Juli will der Ministerpräsident Recep Erdogan dort den Grundstein für Neu-Hasankeyf legen - obwohl die Bauern, denen der Boden gehört, noch immer vor Gericht gegen die Enteignung kämpfen. Für die älteren Einwohner von Hasankeyf wird es schon das zweite Mal in ihrem Leben sein, dass sie umgesiedelt werden. Und dabei werde es dann auch nicht bleiben, meint Bekir. "An dem kargen Ort da am Berg wollen die Leute nicht leben. Da werden viele wohl auf Dauer nicht bleiben."