KOMMUNISMUS
Archie Browns Buch gibt die Geschichte der kommunistischen Systeme nur unvollständig wieder
Dass die Geschichte des Kommunismus eben nicht nur Geschichte ist, erlebt Deutschland derzeit an der Debatte um die Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg im Jahr 1967: Der Täter war überzeugter Kommunist der SED und Stasi-Agent - und mit der Enthüllung dieser Zusammenhänge geraten fest gefügte Meinungsbilder, gut gepflegte Klischees und sicher geglaubte Wahrheiten ins Wanken. Mit der zeitlichen Entfernung von der Hochzeit dieser folgen- und opferreichsten Ideologie wächst der Wunsch nach einem Überblick. Nun also eine Geschichte des Kommunismus vorzulegen, ist ein ebenso ehrgeiziges wie notwendiges Unterfangen. Archie Brown, Professor emeritus für Politische Wissenschaften in Oxford, hat es gewagt. Sein Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.
Brown erzählt die Geschichte des Kommunismus im Wesentlichen an der Geschichte sozialistischer und kommunistischer Staaten entlang. Dies entspricht seiner Herkunft, gehörte Brown doch vor 1989 zu den klassischen "Kreml-Astrologen", also jener Gruppe westlicher Wissenschaftler, die versuchten, das hermetische sowjetische Herrschaftssystem von außen zu analysieren. So ist sein Blick auf den Kommunismus auch im Wesentlichen ein Blick auf die Sowjetunion - eine durchaus sinnvolle Perspektive, denn die rund 70-jährige Geschichte kommunistischer Diktaturen wäre ohne die Sowjetunion und ihre militärische und wirtschaftliche Macht kaum vorstellbar gewesen. Brown erzählt schlüssig von den Machtkämpfen im postrevolutionären Russland und umreißt die Geschichte der europäischen kommunistischen Bewegung mit großen, kühnen Strichen. Beinahe im Vorbeigehen rückt er lieb gewonnene historische Klischees zurecht. So etwa, wenn er die "brüderliche Solidarität" des internationalen Kommunismus im spanischen Bürgerkrieg beschreibt und wie die Sowjetunion "den Großteil der spanischen Goldreserven in ihren Besitz" brachte.
Browns Ausführungen über Ideologie und System des Kommunismus bleiben überraschend oberflächlich. Er ist ganz erkennbar nicht an der Anthropologie des Totalitären interessiert. So bewegt ihn die Frage, warum Menschen für eine Gesellschaftsform zu Massenmördern werden konnten, leider nur am Rande. Dies könnte man noch damit erklären, dass Brown eben Politikwissenschaftler und nicht Philosoph ist. Aber selbst mit vielversprechenden Zwischenüberschriften versehene Passagen des Buches lösen dieses Versprechen nicht ein. Zwar erfährt der Leser einiges über die Sozialstruktur der Sowjetunion und damit etwa, warum die Massenmorde unter Stalin eben besonders höherwertige Arbeitsplätze von Intellektuellen und Angestellten frei werden ließen und somit nicht skandalisiert wurden.
Deutschland nimmt Brown mit bemerkenswert schwankender Präzision in den Blick: So beschreibt er sehr genau, wie deutsche Kommunisten in der Weimarer Republik agierten und wie sie später massenweise Opfer nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch des Komintern wurden. "Insgesamt töteten die Nationalsozialisten rund 20.000 deutsche Kommunisten", schreibt Brown. "Viele andere, darunter einige hochrangige Parteifunktionäre, konnten in die Sowjetunion fliehen. Rund 60 Prozent von ihnen fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer". In der Sowjetunion, so Brown, "wurden mehr Mitglieder des Politbüros der KPD getötet als im nationalsozialistischen Deutschland." Später jedoch wird Browns Blick auf Deutschland zuweilen trübe: So handelt er den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in wenigen Zeilen ab und verkennt, dass es sich um den ersten großen Massenaufstand im kommunistischen Herrschaftsbereich handelte. Zwar charakterisiert Brown die DDR zutreffend als im Wesentlichen auf dem am weitesten ausgebauten Staatssicherheits-System des Ostblocks basierend. Ihr sensationelles Ende, einen Schlüsselmoment der Weltgeschichte, erzählt er gleichwohl eher lustlos und kurzatmig.
Dass Brown mit dem Fall der Mauer so leger umgeht, zeigt denn auch das Defizit seiner Darstellung: Demokratie, Parlamentarismus, freiheitliche Gesellschaften kommen in seiner Kommunismus-Geschichte allenfalls in der Kulisse vor. Brown hat kaum einen Blick für die explosive Kraft der demokratischen Alternative zum totalitären System. Deshalb findet der Leser kaum einen analytischen Gedanken zur Rolle kommunistischer Staaten in internationalen Organisationen, etwa zu ihrem Ringen darum, beispielsweise die KSZE-Schlussakte von Helsinki einerseits öffentlichkeitswirksam zu unterzeichnen, ihre Konsequenzen ihren eigenen Bürgern jedoch dauerhaft vorzuenthalten. Eine Ausnahme bilden Browns Schilderungen über die Opposition in Polen, die Rolle der Solidarnosc und Papst Johannes Pauls II. Und selbst diese schließt Brown mit der apodiktischen Folgerung: "Es besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen den politischen Errungenschaften der Solidarnosc zu Beginn der 1980er Jahre und dem Sturz des Kommunismus in Osteuropa am Ende des Jahrzehnts."
So zeichnet Brown also eine Geschichte des Kommunismus, die es zwar in einheitlicher Form - wie er selbst ausführt - nicht geben kann, die aber doch einen großen historischen Bogen beschreibt, während er zugleich eine Geschichte des antikommunistischen Widerstands nicht zu kennen scheint. Dies wäre noch nachzuvollziehen, sah dieser Widerstand doch in Kuba anders aus als in der Tschechoslowakei oder in China. Aber Brown versäumt es auch, wenigstens die millionenfachen Opfer des Kommunismus in dessen Geschichte einzuordnen. Dabei würde ja ein originärer Beitrag seinerseits zu der Debatte um die Zahl der Toten, die derzeit in einem Korridor zwischen 70 und 100 Millionen Menschen geführt wird, nicht einmal erwartet werden. Aber dass Brown selbst in den jeweiligen detaillierteren Länderschilderungen die Blutspur an Verschleppungen, Lagerterror, Hinrichtungen und Genoziden so randständig behandelt, dürfte manchen Leser irritieren. So ist eine Schilderung des Kommunismus im frühen Tito-Jugoslawien ohne die systematische Ermordung zehntausender Kriegsgefangener und Zivilisten einfach unvollständig. Dass Brown, der UdSSR-Experte, ausgerechnet das Gulag-System der 1930er und 1940er Jahre eher kursorisch behandelt, verwundert ebenso. Präziser zeichnet Brown die Gräuel im kommunistischen China nach, wo Mao Tsetungs "Großem Sprung nach vorn" 1958/61 mehr als 30 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dass die hauptsächlich in den Städten wütende Kulturrevolution knapp ein Jahrzehnt später eine halbe Million Todesopfer forderte, erfährt der Leser ebenso.
Ob jedoch die Angehörigen jener zwei Millionen Kambodschaner, die den Roten Khmern in den killing fields zum Opfer fielen, mit Brown ernsthaft darüber diskutieren möchten, ob ihre Väter und Söhne tatsächlich einer "Karikatur des Kommunismus" (Brown) zum Opfer gefallen sind, darf man bezweifeln. Und so entwickelt Brown, indem er Kommunismus-Geschichte entlang der Politbüros und Staatsstrukturen erzählt, eben leider keinen eigenen Zugang zum Thema.
Der doppelte Eindruck, den Brown hinterlässt, wird noch verstärkt durch seinen offenkundigen Unwillen, die Geschichte des Kommunismus auch als Geschichte seiner freiwilligen Gefolgsleute zu erzählen. Zwar tauchen immer wieder kursorisch Apologeten des kommunistischen Systems auf, die im freien Westen propagandistisch für die Diktaturen im Osten eintraten. Aber Brown vermag es nicht, die für ganze Generationen westlicher Linksintellektueller offenbar unwiderstehliche Anziehungskraft kommunistischer Diktaturen zu analysieren. Wie aber sollte eine Geschichte von "Aufstieg und Fall des Kommunismus" erzählt werden, ohne seine Anhänger in der freien Welt, die doch logischer Teil der kommunistischen Internationale waren? Wie stabilisierten jene, die in Paris das Hohelied auf Stalin oder Breschnew sangen und die Exilanten ausgrenzten, die Sowjetunion? Welche Mitverantwortung tragen jene, die in Berlin die Mao-Bibel skandierend hochhielten, für die Morde, die zeitgleich in Maos Namen in China begangen wurden? Brown hat keine Antworten auf diese Fragen, er stellt sie leider nicht einmal.
Aufstieg und Fall des Kommunismus.
Propyläen Verlag, Berlin 2009; 938 S., 29,90 ¤