Eigentlich war ich immer eine Außenseiterin", sagt Renate Gradistanac über ihre Kindheit. Schwer zu glauben, denn wer die SPD-Politikerin heute trifft, lernt eine gewinnende Person kennen: lange, grau-gelockte Haare, weicher, badischer Dialekt, geerdete Ausstrahlung. Doch als Jugendliche hatte es die 57-Jährige nicht leicht, ihren Platz zu finden: Der Vater arbeitete als Ingenieur bei verschiedenen Firmen. Ob Stuttgart oder Köln - die Familie zieht selbstverständlich mit. Für Renate, ein Einzelkind, bedeutet das fünf Schulen in zwölf Jahren. Kaum eingewöhnt, geht es schon wieder weiter. "Ich war eigentlich nirgends wirklich verwurzelt, habe lange keine Heimatgefühle entwickelt", sagt Gradistanac. Doch diese Erfahrungen sieht sie trotzdem positiv: "Wenn man immer wieder neu anfängt, muss man sich die Welt selbst erobern - es wartet ja keiner auf einen. Man muss fragen, neugierig sein!" Eine Haltung, die ihr geholfen hat: "Gerade als Politikerin!", findet Gradistanac und erinnert sich schmunzelnd an die ersten Tage als Abgeordnete, als sie 1998 neu in den Bundestag gewählt worden war: "Ich wusste nicht, was auf mich zukommt - aber ich hatte das Selbstbewusstsein zu denken: Das schaffe ich!"
Seit fast zehn Jahren vertritt die Politikerin inzwischen ihren am Nordschwarzwald gelegenen Wahlkreis Calw im deutschen Parlament. Doch politisch engagiert ist Gradistanac bereits als junge Erwachsene. Sie ist in der Frauenbewegung aktiv, liest Sartre und de Beauvoir - aber ihr größtes Vorbild in puncto Emanzipation ist bis heute die eigene Großmutter: "Sie hat mir vermittelt, dass man zur eigenen Meinung stehen und sich nichts gefallen lassen soll."
Mut zum Widerspruch hat Gradistanac auf jeden Fall: Ob sie als Abgeordnete gegen die eigene Fraktion stimmt - wie etwa beim Thema Militäreinsätze oder Gesundheitsreform - oder in ihrem Beruf als Sportlehrerin das Wort öffentlich gegen den Rektor ergreift, als der unter dem Druck einflussreicher Eltern das Fernbleiben vom Unterricht auch ohne Attest erlauben will. Als Mutter und Elternvertreterin kämpft sie gegen ausfallende Schulstunden und schlechte Lehrmittel so hartnäckig, dass sie gebeten wird, für den Gemeinderat zu kandidieren. Sie muss nicht lange überlegen. Gemäß ihrer Lieblingsphilosophin Hannah Arendt und deren Idee vom "tätigen Leben" will sich Gradistanac politisch einmischen: Sie tritt 1989 der SPD bei und wird noch im gleichen Jahr Stadträtin in Wildberg. "'Dem Rechtsruck etwas entgegensetzen', das waren meine ersten Worte nach meiner Wahl", erinnert sie sich. Die "Republikaner" haben zu dieser Zeit in Baden-Württemberg starken Zulauf - und auch Gradistanac hat ausländerfeindliche Ressentiments zu spüren bekommen: "Wir würden Sie ja wählen, aber..." Der Nachname, den sie seit der Hochzeit mit dem serbischstämmigen Künstler Georg Gradistanac trägt, habe manchem eben nicht deutsch genug geklungen, erzählt die Abgeordnete. Umso mehr heißt ihr Anspruch nun: für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung. "Vielfalt ist Bereicherung - kein Problem", findet Gradistanac.
Ihr zentrales Anliegen ist es jedoch, Frauen und Kinder vor Gewalt und Missbrauch zu schützen. Schon im Stadtrat machte sie sich für ein Frauenhaus in Calw stark - aber auch in Berlin, als stellvertretende Sprecherin des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fühlt sie sich diesem Thema verpflichtet.
Dass 2002 ein neues Gewaltschutzgesetz in Kraft tat, an dem sie mitgearbeitet hat, ist Genugtuung für Gradistanac - aber es gibt noch viel zu tun: In puncto Kinderrechte etwa. Die Politikerin möchte sie künftig im Grundgesetz verankern.
"Wir brauchen zudem bessere Strukturen, die Kinder begleiten - denn oft wird erst eingegriffen, wenn schon etwas passiert ist", kritisiert Gradistanac. Meist drehe sich die Diskussion nur um Verbote, doch damit erreiche man wenig. "Vor allem nicht, wenn man im gleichen Atemzug Gelder für Beratungsstellen streicht." Viel Auseinandersetzung, die auf die Abgeordnete wartet. Doch das schreckt sie nicht: "Schließlich möchte ich als 90-Jährige auf mein politisches Leben mit einem eindeutigen 'Ja' zurückblicken." Die Chancen stehen dafür gut.