Eines zumindest war nach der zweiten öffentlichen Sitzung des Visa-Untersuchungsausschusses am 24. Februar klar: Politiker sind kreativ und ihr Interpretationsrahmen zum Teil recht groß. Zur Zeugenvernehmung waren zunächst zwei Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) in Wiesbaden geladen. Sie sollten die Ausschussmitglieder vor allem über den so genannten Wostok-Bericht des BKA aus dem Jahr 2003 informieren, der die Erkenntnisse der Behörde über Wege der Schleuserkriminalität aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zusammenfasst. Während jedoch der Obmann der CDU, Eckart von Klaeden, am Rande der Sitzung davon sprach, die Erlasse von Rot-Grün aus den Jahren 1999 und 2000 seien ein Grund für den Visa-Missbrauch gewesen und die Verteidigungslinie der Koalition "geschmolzen wie Butter in der Sonne", waren die Obleute von SPD und Grünen, Olaf Scholz und Jerzy Montag, anderer Meinung. Montag erklärte, Außenminister Joschka Fischer werde durch die Äußerungen der Beamten entlastet, und das BKA habe keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Volmer-Erlass aus dem Jahr 2000 und dem Ausmaß der Schleuserkriminalität bestätigen können.
Fest steht: Bereits im Jahr 2000 hatte das BKA erste Erkenntnisse über die Schleusung von Menschen aus der Ukraine nach Deutschland. Bis zum Ende des Jahres 2001 hätten sich diese Erkenntnisse dann weiter verdichtet, erklärte Kriminalhauptkommissar Lars Rückheim. Er hatte sich seit Jahren mit Schleuserkriminalität beschäftigt und den Wostok-Bericht für das BKA verfasst. Im Mittelpunkt des Berichtes, der auf eiAnfrage der Kölner Staatsanwaltschaft entstand, stand die Auswertung des Systems der Reiseschutzpässe, die es seit 1995 gibt. Durch einen Erlass des Auswärtigen Amtes (AA) von 1999 wurde dieses System der Visa-Vergabe liberalisiert, die Besitzer der Versicherungen mussten in der Regel nicht mehr weitere Dokumente zu Reisezweck und Rückkehrbereitschaft vorlegen. Im März 2000 erging dann der umstrittene Volmer-Erlass, wonach bei der Visa-Vergabe im Zweifel für die Reisefreiheit entschieden werden sollte.
Beide Erlasse spielten im Wostok-Bericht dennoch keine Rolle. Jedoch wird darin von einer "Visa-Erschleichung in bislang unbekanntem Ausmaß" geschrieben. Anlass zu dieser Feststellung sei die Beobachtung von Visa-Unregelmäßigkeiten bei einer überdurchschnittlichen Zahl von GUS-Reisegruppen, vor allem aus der Ukraine, gewesen, so der Bericht. Darüber hinaus verfügte das BKA laut dem Bericht schon 2001 über Erkenntnisse, nach denen die organisierte Kriminalität Schleusernetzwerke installiert habe. "Dabei sei auch die "Logistik der Visa-Erschleichung - in Deutschland wie im Ausland - in der Hand der Netzwerke". Die in Deutschland agierenden Täterkreise würden "von Personen aus den russischsprachigen Raum", vorrangig Aussiedlern dominiert.
Über den möglichen Missbrauch von Visa hätten ihn die Mitarbeiter der Visastelle an der deutschen Botschaft in Kiew erstmals im Februar 2001 informiert, sagte Rückheim. Damals sei er dienstlich in die Ukraine gefahren, die Leiterin der Visastelle selbst hätte "Gesprächsbedarf" angemeldet. Während dieser Konsultationen wiesen ihn die Botschaftsangehörigen darauf hin, dass die Zahl der Visaanträge von Januar 2000 bis zum Januar 2001 um 130 Prozent gestiegen seien. "Es wurde damals nicht detailliert über die beiden Erlasse des AA gesprochen", betonte Rückheim. "Die Mitarbeiter nannten sie jedoch als mögliche Gründe für diesen Anstieg." Vermutungen der Opposition, wonach die Visa-Erlasse des AA für die Zunahme der Anträge verantwortlich seien, konnte der BKA-Beamte nicht bestätigen. Er selbst habe die Erlasse zum damaligen Zeitpunkt gar nicht detailliert gekannt, begründete er seine Zurückhaltung.
Auch sein damaliger Vorgesetzer im BKA, der Kriminaldirektor Albert Märkl, hielt sich mit einer politischen Bewertung der Erlasse zurück: "Erlasse sind ja letztendlich Regierungsentscheidungen, die möchte ich nicht bewerten, so Märkl. Allerdings führte er aus, dass die Visa-Praxis der rot-grünen Bundesregierung dem BKA bereits im Herbst 2000 negativ aufgefallen sei. Bei Dienstreisen zu den Botschaften nach Kiew und in die weißrussische Hauptstadt Minsk im Oktober 2000 seien er und seine Kollegen auch mit Bedenken der dortigen deutschen Auslandsvertretungen hinsichtlich der Praxis der Reiseschutzversicherungen konfrontiert worden. "Dadurch wurde die Prüfungsmögklichkeit geschmälert", und Visa-Erschleichungen seien schwerer aufzudecken, so der Beamte. Fundierte Zahlen über den Umfang gebe es aber nicht.
Während dieser zweiten öffentlichen Sitzung wurde deutlich, wie sinnvoll der Arbeitsprozess eines Untersuchungsausschusses ist - zuerst die Akten zu studieren und dann zu vernehmen. So mussten die Aussagen der Beamten in vielen Punkten vage bleiben, da sie sich nach Jahren nicht mehr detailliert an einzelne Arbeitsabläufe erinnern konnten. Auch die Ausschuss-mitglieder wiesen deshalb wiederholt darauf hin, die Einzelheiten dann später in den Akten nachzulesen. Anfang März sollen dem Ausschuss die Akten des Auswärtigen Amtes zugeleitet werden. Aus der Botschaft in Kiew werden laut Jerzy Montag zudem 1,7 Tonnen Material erwartet.
Unterdessen gerät Außenminister Fischer politisch stärker unter Druck. Zwar scheiterten die Unionsfraktionen am 24. Februar erneut mit ihrem Anliegen, Fischer noch im April vor den Ausschuss zu zitieren. "Der Arbeitsplan sieht vor, dass wir uns erst schlau machen und dann die politisch Verantwortlichen in den Ministerien vernehmen", sagte Grünen-Obmann Montag. Aber auch aus den eigenen Reihen wird der Fischer zunehmen bedrängt, sich so schnell wie möglich vor dem Gremium zu äußern. Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein befürchten SPD und Grüne negative Auswirkungen auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai. Vor allem die Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen drängen nun auf eine rasche Aussage. Der NRW-Landesvorsitzende der SPD Harald Schartau kritisierte unterdessen das Verhalten Fischers. Der Minister sei in "einer Weise aufgetreten, die alles andere als überzeugend war". Von der Möglichkeit eigener Fehler in der Visa-Praxis sei zunächst keine Rede gewesen. "Das wirkte so, als wolle man möglichst schnell zur Tagesordnung übergehen", so Schartau. Fischer betonte, eine Vernehmung müsse mit dem Ausschuss "sorgfältig abgestimmt werden". Er bekräftigte seine Absicht, rasch zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen: "Sie werden von mir in den nächsten Tagen sehr klare Worte darüber hören."