In den ersten sechs Monaten des Jahres 1933 wurden Entscheidungen getroffen, ohne die das, was dann folgte und schließlich in der schlimmsten Katastrophe unserer Geschichte endete, kaum möglich geworden wäre. (...) Es ist hier nicht der Ort, über die Gründe zu rechten, aus denen nicht nur die Nationalsozialisten und die Deutsch-Nationalen, sondern auch die Abgeordneten der anderen Parteien dem Gesetz zustimmten. Nach dem heutigen Stand der zeitgeschichtlichen Forschung haben dabei Zusagen Hitlers gegenüber der katholischen Kirche und den Repräsentanten der Zentrumspartei, aber auch die Furcht vor einer Welle blutiger Gewalt und die Sorge um die eigene Sicherheit im Falle der Ablehnung eine Rolle gespielt. (...)
Eines aber steht heute wohl fest: Der Sozialdemokrat Otto Wels hat damals - so umschreibt es der Historiker Heinrich August Winkler - nicht nur die Ehre der Sozialdemokratie, "sondern der deutschen Demokratie überhaupt" gerettet. Die entscheidenden Sätze seiner Rede gehören deshalb in alle Geschichtsbücher.
Insgesamt war mit dem Ermächtigungsgesetz und der Ausschaltung der Parteien der Übergang zur Diktatur vollendet und allem, was dann folgte, der Boden bereitet.(...)
Was lernen wir daraus? Natürlich lehrt uns die Erinnerung an die seinerzeitige Massenarbeitslosigkeit, wie wichtig es ist, dass das Gemeinwesen den Menschen eine hinreichende wirtschaftliche und soziale Sicherheit gewährleistet. Und dass der Protest gegen Lebensverhältnisse, die als ungerecht, als dauerhafte Ausgrenzung wahrgenommen werden, radikalen Positionen Zulauf verschafft. Ebenso ersehen wir, wie wichtig auch der Fortgang der europäischen Verständigung und Einigung ist, deren seinerzeitige erste Ansätze (...) bald von den aufgepeitschten Wellen eines blinden Nationalismus hinweggespült wurden.
Die wichtigste Lehre sehe ich aber in der Erkenntnis, dass eine Demokratie auf Dauer nur Bestand haben kann, wenn sie von den Menschen getragen wird; wenn diese sich als Bürgerinnen und Bürger verstehen, die selber für die Bewahrung der demokratischen Grundregeln mit verantwortlich sind. Diese Notwendigkeit immer auf's Neue ins Bewusststein zu rufen und durch das eigene Beispiel zu bezeugen, ist die gemeinsame Aufgabe aller, die in unserer Gesellschaft besondere Verantwortung tragen. Und das nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und im Bereich der Medien; um nur einige Bereiche zu nennen. Die sinkenden Wahlbeteiligungen, die nicht nur gelegentlich zu verspürende Politikverdrossenheit und die zunehmende Empörung über das bedrückende Fehlverhalten einiger Manager sollten uns daran gemahnen - nein: Nicht nur gemahnen, sondern aufrütteln. Denn hier droht ein nachhaltiger Vertrauensverlust. Ohne ein bestimmtes Maß an Grundvertrauen kann aber eine Demokratie ihre Aufgaben nicht erfüllen.
Eine andere Lehre besteht für mich darin, dass die Demokratie des Einvernehmens über ein klares Menschenbild und über die sich daraus ergebende Wertordnung bedarf. Beides findet sich in unserem Grundgesetz, das eben nicht nur eine Ansammlung von Organisations- und Verfahrensregeln darstellt. Schon die ersten Absätze seines ersten Artikels lauten ja ausdrücklich:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." (...)
Wir alle sind aufgerufen, die Wertordnung des Grundgesetzes zu wahren und sie immer wieder mit Leben zu erfüllen. Denn sie lebt nach dem bekannten Ausspruch von Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen, die der Staat allein nicht schaffen kann. Sie wird vor allem von dem Gedankengut gespeist, aus dem der einzelne für sich die absolute Verbindlichkeit der Menschenwürde und der Menschenrechte herleitet. Also insbesondere aus den Prinzipien des Christentums, der Aufklärung und des Humanismus, deren wir uns stets aufs Neue bewusst werden müssen.
Unsere jüngere Geschichte ist durch tiefe gesellschaftliche Umbrüche, durch dramatische politische Zäsuren und durch sehr unterschiedliche Generationserfahrungen geprägt. Es gibt in diesem Land kein ungebrochenes historisches Selbstverständnis. Aber es gab eine Fülle von weitreichenden Erschütterungen, an die man immer wieder erinnern muss. Am heutigen Tage erinnern wir uns vor allem an die erste Hälfte des Jahres 1933 und damit an den Beginn der schrecklichsten Phase unserer Geschichte. Wir tun das nicht, um Schuldkomplexe als eine nationale Last zu konservieren. Schuld ist eine individuelle Kategorie. Wir erinnern uns auch nicht, um an Gedenktagen Betroffenheitsrituale zu pflegen. Nein! Die Erinnerung soll Nachgeborenen vor Augen führen, wo es endet, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten, Grundprinzipien mitmenschlichen Zusammenlebens missachtet und einem sogenannten Führer in gotteslästerlicher Weise Allwissenheit und Allmacht zugebilligt werden.
Eine weitere Mahnung aus jener Zeit vor 75 Jahren lautet: "Wehret den Anfängen!" Und dieses Gebot ist durchaus aktuell. Nicht, dass unsere Demokratie heute in ähnlicher Weise in Gefahr wäre wie damals. Davon kann keine Rede sein. Und wir brauchen uns auch trotz mancher Fehler, manchen Versagens und mancher Versäumnisse der bisherigen Geschichte unserer Bundesrepublik nicht zu schämen. Es wäre sogar gut, wenn wir uns gelegentlich über einzelne Glanzpunkte dieser Geschichte auch einmal freuen würden. Etwa über das unblutige Zustandekommen der deutschen Einheit. Oder darüber, dass wir im Gebiet der heutigen Europäischen Union seit über 60 Jahren in Frieden leben. Das würde zugleich die Zuversicht stärken, dass wir auch die neuen Herausforderungen bewältigen können. (...)
Aber eine Wiederbelebung nationalsozialistischer Anschauungen und Parolen gibt es durchaus. Und auf dieser Grundlage antisemitische und ausländerfeindliche Kundgebungen und Gewalttaten. Es gibt sogar Parteien, die in einzelnen Landesparlamenten in schwer erträglicher Weise auftreten und an die Frühzeit der NSDAP erinnern. Ihnen gilt es zu begegnen. Nicht nur der Staat, sondern wiederum jeder einzelne ist hier in der Pflicht. Wer wegsieht oder nur die Achseln zuckt, schwächt die Demokratie. Wer widerspricht und sich einbringt, stärkt sie.
Denn: Was vor 75 Jahren versäumt wurde, darf sich nicht wiederholen. (...) Das sind wir aber auch denen schuldig, die damals im Widerstand ihr Leben einsetzten und den Millionen, die hingemordet wurden. Lassen Sie uns ihrer gerade in dieser Stunde gedenken und damit das Versprechen verbinden, dass wir ihres Vermächtnisses stets eingedenk bleiben und uns an ihm orientieren wollen.
Und das nicht nur bei festlichen Gelegenheiten, sondern bis in unsere tägliche Arbeit hinein!
Mehr zum Thema in der Debattendokumentation und unter: www.bundestag.de/aktuell/ archiv/2008/20069543_kw15_gedenkstunde
Es handelt sich bei dem Text um Auszüge der Rede Hans-Jochen Vogels am 10. April im Bundestag.