STAMMZELLGESETZ
Der Stichtag wird verschoben. Der Streit bleibt
Volker Beck gibt sich alle Mühe. Er drängt und fleht. Er beugt die Knie, lehnt sich nach vorne. "Ein Mensch darf nicht verzweckt werden. Deswegen darf es hier keinen Kompromiss geben", wirbt er für ein Importverbot von Stammzellen. Umsonst. Am Ende steht fest: Der Stichtag im Stammzellgesetz wird auf den 1. Mai 2007 verschoben. Deutschlands Forscher dürfen damit den Import von fast 500 zusätzlichen und jüngeren Zelllinien als bisher beantragen. Mit 346 Ja- gegen 228 Nein-Stimmen bei sechs Enthaltungen hatte sich der Gesetzentwurf der Gruppe um René Röspel (SPD) durchgesetzt. Der Gesetzentwurf von Ulrike Flach (FDP) und Unterstützern zur vollständigen Abschaffung des Stichtages erhielt 126 Ja-, 443 Nein-Stimmen und zehn Enthaltungen. Hubert Hüppe (CDU) und andere, die ein Importverbot von embryonalen Stammzelllinien gefordert hatten, erhielten für ihren Entwurf 118 Ja- und 442 Nein-Stimmen bei 16 Enthaltungen. Der Entwurf zur Beibehaltung des Stichtages von Priska Hinz (Grüne) und Unterstützern sowie ein Antrag kamen nicht mehr zur Abstimmung.
Die fast zweistündige Debatte verlief ähnlich kontrovers wie 2002, als das Stammzellgesetz verabschiedet worden war. Der Kompromiss, der die Verabschiedung des Gesetzes möglich machte, war der Stichtag 1.1.2002. Damals wurde festgelegt, dass embryonale Stammzelllinien zu Forschungszwecken nur importiert werden dürfen, wenn sie vor diesem Datum produziert wurden. Dadurch sollte Wissenschaftlern die Forschung mit diesem Material ermöglicht werden, ohne dass von Deutschland der Anreiz ausgeht, Embryonen zu zerstören. Forscher bemängeln seit einiger Zeit, die Linien seien zu alt; mindestens eine Verschiebung des Stichtages sei nötig.
Der Fraktionszwang war aufgehoben, die Fronten deshalb nicht eindeutig an der Parteizugehörigkeit auszumachen. Immer wieder ging es um die zentrale Frage, ob die wenige Tage alten Embryonen, die für die Stammzellforschung benutzt werden, Träger der Menschenwürde sind. Die Liberale Ulrike Flach verneinte dies. Diese Embryonen könnten nicht zu Menschen heranwachsen. Sie forderte eine Freigabe der Forschung an embryonalen Stammzellen. "Auch das Heilen von Menschen ist moralisch", rief sie ins Plenum. Anwesende aller Fraktionen applaudierten zustimmend.
"Die Forschung mit Stammzellen ist ein Eingriff in das Lebensrecht eines Embryos. Der Wert des Menschseins lässt sich nicht abstufen", mahnte Parlamentsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) in ruhigen und energischen Worten. Auch ihm stimmten viele Abgeordnete lautstark zu. Für Maria Böhmer (CDU) bedeutete die Verschiebung eines Stichtages "ein Signal ans Ausland, dass wir bereit sind, wieder zu verschieben." Das schaffe eben die Anreize zum Zerstören von Embryonen, die man mit dem Stichtag habe vermeiden wollen. "Ein Mensch ist ein Mensch, eine Zelllinie ist eine Zelllinie, wer das gleichsetzt, muss scheitern", entgegnete Peter Hinze (CDU). Priska Hinz sah keinen Grund für eine Stärkung der embryonalen Stammzellforschung. "In der adulten Stammzellforschung ist man um einiges weiter", so Hinz. Die Aussichten auf Therapien seien mit diesen ethisch unbedenklichen Zellen wesentlich größer.
Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) hatte zu Beginn der Debatte versucht, die Wogen zu glätten, die in den vergangenen Wochen und Monaten hochgeschlagen waren. "Wissenschaftler haben ebenso ethische Überzeugungen wie wir, sie sind keine bloßen Interessensvertreter", so Schavan. Es gebe daher nicht "auf der einen Seite nur Interessen, auf der anderen Seite nur Moralität". Gegner einer Lockerung des Stammzellgesetzes, allen voran die katholische Kirche, hatten die Abgeordneten noch in den Tagen zuvor dazu aufgerufen, das Gesetz nicht zu ändern. Eine Gruppe von 17 deutschen Stammzellforschern hatte dagegen in einem offenen Brief mindestens eine Verschiebung, wenn nicht eine Abschaffung des Stichtages gefordert. Das bestehende Stammzellgesetz stelle eine Verbindung von Lebensschutz und Forschung dar, so Schavan in ihrer Rede. Die Wissenschaftler machten Experimente an Embryonen, bei denen ohnehin entschieden worden sei, sie nicht in den Mutterleib einzusetzen. Auch Christoph Strässer (SPD) betonte, dass eine Änderung des Stammzellgesetzes keine Änderung des Embryonenschutzgesetzes bedeute. Das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz verbietet unter anderem Experimente mit Embryonen.
Die Reaktionen auf die Entscheidung im Bundestag ließen nicht lange auf sich warten. Auf Seiten der Wissenschaft zeigte man sich erleichtert über den Kompromiss. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sprach von einem "guten und wichtigen" Schritt nach vorne für die Wissenschaft. Auch Wolfgang Böhmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, zeigte sich erfreut. Er halte die Entscheidung für sinnvoll, denn "es würde keinen Sinn machen, sich wegen einer willkürlich festgelegten Stichtagsregelung aus der Spitzenforschung eines so wichtigen Forschungsgebiets auszuklinken".
Der Müncher Erzbischof Reinhard Marx dagegen äußerte sich enttäuscht. "Das ist kein guter Tag für den Lebensschutz in Deutschland", sagte er. Der Beschluss stelle menschliches Leben zur Disposition. Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) kündigte die Anrufung eines Vermittlungsausschusses im Bundesrat an. Er werde seinem Kabinett diesen Schritt empfehlen, da er die Sorge habe, "dass es jetzt immer leichter wird, den Schutz des ungeborenen Lebens noch weiter auszuhöhlen." Eine Fortsetzung im Stammzellgesetz ist also vorprogrammiert.