RUMÄNIEN
Noch scheint der Boom im jüngsten Mitgliedstaat ungebrochen. Die Europawahl wird zeigen, ob das Vertrauen zur EU auch in Zeiten der Krise anhält
Wer vor ein paar Jahren einmal in Rumänien war und im Frühjahr 2009 wenige Wochen vor den Europawahlen wieder das Land bereist, staunt: Dort, wo vor den Toren der Städte Felder waren, stehen heute Einkaufzentren mit riesigen Parkplätzen und Fast-Food-Drive-Ins. Neue Eigenheimsiedlungen sind entstanden. Vor den Häusern parken immer seltener die alten 1300er Dacias, sondern neue Logans, VWs, Renaults und Toyotas. Viele der einst mit Schlaglöchern übersäten Fernstraßen sind frisch asphaltiert. Eigentlich sieht so ein Land im Aufschwung aus, nicht eines, dass vor nicht einmal zwei Monaten durch Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Europäischen Union vor dem Staatsbankrott gerettet werden musste.
Die rumänische Währung hat seit August 2008 zeitweise über 17 Prozent an Wert gegenüber der europäischen Leitwährung eingebüßt und sich erst nach den IWF-Zusagen einigermaßen, aber auf niedrigem Niveau, stabilisiert. "Krise und Euro machen den Wohlstand zunichte" titelte kürzlich die Wirtschafts- und Finanzwochenzeitung "Capital". Noch steigen viele Löhne im zweistelligen Bereich. Statistiken vermelden einen jährlichen Zuwachs zwischen 10,2 und 17,6 Prozent. Dennoch steht am Ende wegen der europäischen Rekord-Inflationsrate von 6,5 Prozent oftmals ein reales Minus, da vieles über den Euro abgerechnet wird.
Bei den Europawahlen am 7. Juni dominiert daher auch die Finanz- und die Wirtschaftskrise die Kampagnen. Die dem Präsidenten Traian Basescu nahstehende Regierungspartei PD-L (Liberaldemokratische Partei) etwa wirbt mit einem Slogan, der im übertragenen Sinne "in guten wie in schlechten Zeiten" bedeutet. Die nationalliberale PNL, die bis 2008 die größte Fraktion in der Regierung in Bukarest stellte und derzeit in der Opposition ist, schreibt "Geld für Rumänen. Europäisches Geld" auf ihre allgegenwärtigen Banner. Um die 33 rumänischen Sitze bewerben sich Kandidaten von insgesamt sieben Parteien oder Parteiallianzen, dazu unabhängige Kandidaten wie etwa Präsident Basescus eher als Partygirl bekannte Tochter Elena, die aber schon angekündigt hat, direkt nach der Wahl wieder in die Partei des Vaters zu gehen.
"Nach außen scheint es so, als sei hier ein Boom im Gange", sagt die 21-jährige Wirtschafts-Studentin Iulia Lucescu. "Und in den vergangenen drei, vier Jahren war das auch teilweise so, auch wenn vieles davon nur Investitionen auf Pump waren. Nun wollen wir es nicht wahrhaben, dass es schon wieder vorbei sein soll." Iulia sitzt mit drei Freunden auf einer Bank an der Piata Universitatii vor dem Nationaltheater in Bukarest. Zusammen waren sie gerade in der aktuellen Inszenierung von Eugene Ionescos "Unterrichtstunde". Nach dem Theater sind sie nicht mehr in eines der Cafés im Zentrum der Hauptstadt gegangen. Man sitzt am vom Balcescu-Boulevard durchschnittenen Platz, spart sich das Geld für die Getränke, redet und nimmt dann die letzte U-Bahn nach Hause. Wer, wie viele Studenten, ein mageres Gehalt oder Stipendium in Lei ausgezahlt bekommt, muss die sich ein wenig wie Plastik anfühlenden Scheine gegenwärtig einmal mehr umdrehen als im letzten Jahr um diese Zeit.
Rumäniens Bevölkerung war laut Meinungsumfragen die am ausgeprägtesten pro-europäische der zehn EU-Mitgliedstaaten des ehemaligen Ostblocks, die seit 2004 der EU beigetreten waren. Bulgarien und Rumänien kamen als letzte 2007 dazu. Trotz der dominierenden orthodoxen Religion gilt das Land unter anderem wegen seiner romanischen Sprache und Kultur als eher westlich orientiert. Doch nicht nur der Weg in die EU war schwierig. Auch innenpolitisch waren mit Europa Zerwürfnisse verbunden. Eine Kontroverse um die Festsetzung des Termins für die erste Wahl rumänischer Mitglieder in das Europäische Parlament endete 2007 im Bruch der damals von Basescus PD und der PNL geführten Regierungskoalition.
Das Staatsoberhaupt selbst ist laut einer im Mai veröffentlichten Umfrage des Nationalen Instituts für Meinungsforschung mit einer Zustimmungsquote von 45 Prozent noch immer der beliebteste Politiker des Landes - trotz eines Minus von 15 Prozent. 2007 hatte er nur knapp ein Amtsenthebungsverfahren und ein Referendum überstanden. Man warf ihm damals vor, Stimmung gegen die Regierung und das Parlament machen. Tatsächlich beruht Basescus hohe Zustimmung im Volk auf seiner eher antipolitischen, populistischen Rhetorik. Bei den Präsidentschaftswahlen im November strebt er eine zweite Amtszeit an. Seine Kandidatur will er jedoch vom Abschneiden seiner Partei, der PD-L, bei den Europawahlen abhängig machen. Langfristig schweben ihm fundamentale politische Änderungen vor. Eine von ihm eingesetzte Kommission befürwortet eine Verfassungsänderung hin zu einer präsidialen Republik mit einem auf eine Kammer reduzierten Parlament, geringeren Machtbefugnissen für Ministerpräsident und Regierung und mehr direkter Demokratie per Volksentscheid.
Seine vergleichsweise hohe Popularität impliziert, dass in der Bevölkerung viele ähnlich denken wie ihr Präsident: "Die meisten Leute hier sind frustriert von der Politik", sagt der Wirtschaftsstudent Christian Cojocaru. Bei Wahlen müssten sich die Rumänen "zwischen schlechten und noch schlechteren Kandidaten entscheiden", auf die Listen kämen "nur Leute mit Geld und Beziehungen". Die extrem niedrige Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2008 wurde von politischen Analysten als Zeichen solcher Politik-Frustration und -Verdrossenheit interpretiert. Christian jedenfalls will sein Hamburger an einer der Ausfallstraßen Bukarests nicht recht schmecken. Seine Freunding Doina Prusan würde das Land am liebsten bald verlassen, sagt sie. Er will bleiben "obwohl es hier schwierig ist, aber es ist mein Land".
Ans Auswandern denken viele. Einen 29-jährigen Manager und Mitbesitzer eines Hotels an der Schwarzmeerküste etwa, der lieber anonym bleiben möchte, haben jahrelange Querelen mit Behörden, Konkurrenten und Neidern aufgerieben. Jetzt hofft er auf einen Neuanfang in Holland oder Portugal, falls er das frisch renovierte Hotel verkaufen kann: "Es ist gut, dass wir jetzt in der EU sind, aber man darf sich keine Illusionen machen, wir sind und bleiben Peripherie in Europa, und hier gelten andere Regeln."
Kaum jemand in Rumänien ist zwei Jahre nach dem Beitritt gegen die Mitgliedschaft in der EU, und das nicht nur wegen der zahlreichen von Brüssel mitfinanzierten Infrastrukturprojekten und etwa einer Milliarde Euro an Subventionen für die Landwirtschaft. Doch viele der Regeln, die schon jetzt oder bald auch hier gelten sollen, scheinen zu diesem Land einfach nicht zu passen. So erwirtschaften viele Kleinbauern wichtige Teile ihres Einkommens mit nicht sonderlich hygienisch selbst gesenntem und vermarktetem Käse von Schaf und Rind. Brüssel wird diese Praxis wahrscheinlich irgendwann untersagen.
Doch der Käse ist in Gegenden wie etwa Siebenbürgen (Transsilvanien), wo die Hirtenkultur Jahrhunderte alt ist, nicht nur Einkommensquelle, sondern Teil des Lebens. Wer etwa mit einem Bauern wie Florin Ciontea von seinem Hof im Dorf Blaj, das zwischen Sibiu und Cluj liegt, auf dem Trecker zum Melken mit hinauf zu den Weiden fährt, kann selbst schmecken, was das bedeutet: warm, frisch, süß und sehr bekömmlich ist die kurz zuvor durch ein paar Tücher gefilterte Schafsmilch, und unglaublich fettreich. Einer Euronorm entspricht sie allerdings nicht - so wie immer noch vieles in diesem Land.