GUNTER PLEUGER
Der Universitätspräsident fordert vor den Europawahlen mehr Mitsprache für das Europäische Parlament
Herr Pleuger, in wenigen Tagen sind Europawahlen. Umfragen zufolge wollen am 7. Juni erneut weniger als 50 Prozent der Deutschen wählen gehen.
Das bedaure ich sehr. Denn von der Europäischen Union profitieren doch letztlich alle - nicht nur von ihrer wirtschaftlichen Prosperität, sondern auch von der politischen Stabilität, die sie schafft und die auf den Rest Europas ausstrahlt. Die EU gibt ihren Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Kultur und ihre Identität zu behalten, eröffnet ihnen aber gleichzeitig eine zweite europäische Identität und Zukunft. Das ist für diesen im vergangenen Jahrhundert viel geplagten Kontinent geradezu ideal.
Sie haben sich als Diplomat fast 40 Jahre mit Europapolitik beschäftigt, bevor Sie Präsident der Europa-Universität in Frankfurt/Oder wurden. Sind Sie nicht auch mal ein bisschen europamüde?
Im Gegenteil. Ich habe die Hälfte meines Berufslebens im Ausland verbracht, und je länger ich dort war und die EU und die europäischen Entwicklungen von außen betrachtet habe, desto mehr bin ich ein überzeugter Europäer geworden. Ich glaube, dass die EU das Beste ist, was Europa in den vergangenen 800 Jahren passiert ist.
Sehen Ihre Studenten in Frankfurt/Oder das auch so?
Die jungen Leute sind völlig vorurteilsfrei gegenüber Europa und gegenüber anderen Kulturen und Sprachen. Aber es fehlt ihnen auch die Erfahrung der geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Da ist es natürlich schwerer zu vermitteln, dass das, was sie heute an Freiheit und Wohlstand für selbstverständlich erachten, schwer erkämpft worden ist - und auch immer wieder erkämpft werden muss. Der Stand der Integration und das Ausmaß der damit einhergehenden Vorteile ist schon so groß, dass sie es nicht mehr als etwas Besonderes empfinden.
Das Wohl ist also zugleich das Übel. Doch warum beteiligen sich auch viele Ältere nicht mehr an europäischen Wahlen?
Die allgemeine EU-Müdigkeit hat zwei Gründe. Erstens muss der Bürger das Gefühl haben: Wenn ich einen Kandidaten in das Europäische Parlament wähle, dann hat das Einfluss auf meine ganz persönlichen Lebensverhältnisse. Genau dieses Gefühl haben viele Menschen heute nicht. Andererseits können es sich die Bürger auch nicht vorstellen, wie die EU durch Gesetzgebung und Verordnungen bereits jetzt unmittelbar in ihr Leben eingreift. Dabei tun das die europäischen Institutionen jeden Tag.
Ist das ein Vermittlungsproblem?
Einerseits. Die Bürger sind nicht aufgeklärt darüber, wie die Entscheidungen in Brüssel getroffen werden und welche für sie unmittelbar wirksam sind. Es ist aber auch ein strukturelles Problem. Das Europäische Parlament ist als demokratischer Gesetzgeber einfach nicht hinreichend mit Befugnissen ausgestattet. Es hat viel zu wenig demokratische Rechte - ein Defizit, das mit dem Vertrag von Lissabon behoben werden soll und unbedingt behoben werden muss.
Welche Befugnisse sollte das Parlament Ihrer Ansicht nach bekommen?
Schon mit der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages würde das EU-Parlament eine Reihe wichtiger zusätzlicher Kompetenzen erhalten. Es würde dann beispielsweise auf Vorschlag des Europäischen Rates den Kommissionspräsidenten und die weiteren Mitglieder der EU-Kommission wählen. Auch soll das Mitentscheidungsverfahren zum Regelverfahren werden. Darüber hinaus wäre es sinnvoll - wie seinerzeit im Konvent für die Europäische Verfassung vorgeschlagen - wenn der Kommissionspräsident als Kandidat der stärksten Fraktion aus einem europaweiten Wahlkampf hervorginge. Das würde ihm mehr Schlagkraft und Führungsverantwortung verleihen und dadurch auch mehr Wähler an die Urnen treiben.
Eine Umfrage hat kürzlich ergeben, dass erstmals seit zehn Jahren mehr Befragte, nämlich 24 Prozent, in der deutschen EU-Mitgliedschaft Vorteile sehen. Nachteile sehen "nur noch" 20 Prozent. Da tut sich also etwas.
Ja, aber die übrigen 50 Prozent, die nicht genau wissen, ob die EU gut für sie ist oder nicht, werden diejenigen sein, die nicht zur Wahl gehen. Sie wissen einfach nicht, warum sie wählen sollen. Trotzdem ist es natürlich ein positives Zeichen, dass zumindest eine Mehrheit der politisch aktiven Bürgerschaft meint, dass die EU ihnen nützt. Man braucht sich auch nur die Geschichte der EU anzusehen, um festzustellen: In den gut 50 Jahren ihrer Existenz ist sie allen Mitgliedstaaten gut bekommen - wirtschaftlich, sozial und politisch.
Die Studenten bei Ihnen an der Viadrina studieren ausdrücklich an einer sogenannten Europa-Universität. Wie ist ihr Verhältnis zur EU?
Die europäischen Studenten bei uns sind automatisch mehr oder weniger überzeugte Europäer. Viele von ihnen, insbesondere die, die aus den mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU kommen, entwickeln eine starke europäische Identität, ohne dass sie deshalb ihre nationale Identität aufgeben oder einschränken müssen. Diese Studenten werden sich die Errungenschaften der europäischen Integration nicht wieder wegnehmen lassen, sondern mit zunehmendem Alter und Einfluss auch dafür sorgen, dass sie erhalten bleiben.
Wie vermitteln sie die europäische Idee an Ihrer Universität?
Wir befassen uns an der Viadrina intensiv mit Themen rund um die europäische Integration, zum Beispiel mit den Problemen der Transitionsländer in Mitteleuropa, also den Ländern, die ihre Demokratien seit dem Zerfall des Ostblocks erst aufbauen. Aber auch Fragen, wie die Erweiterung der EU vorangetrieben werden kann oder wie das strategische Verhältnis der Europäischen Union zu Russland künftig aussehen sollte, sind wichtig für uns.
Letzteres Thema ist gerade in Mitteleuropa mit Vorbehalten verbunden.
Deshalb interessiert es unsere Studenten, von denen viele aus Mittel- und Osteuropa kommen, so sehr, ebenso wie das Thema "Östliche Partnerschaft". Wie organisieren wir die Beziehungen zu den Nachbarländern der EU im Osten - zur Ukraine, zu Weißrussland und anderen? Wir wollen diesen Prozess begleiten und nutzen alle Möglichkeiten, die eine Universität in Forschung und Lehre dafür bietet.
Frankfurt/Oder ist eine kleine Stadt. Mehr als 40 Prozent der Einwohner haben sie nach der Wende verlassen. Inwieweit hat die 1991 gegründete Universität das Leben in dieser Grenzregion geprägt?
Sie müssen sehen, dass wir die deutsche Universität mit dem höchsten Anteil an ausländischen Studierenden sind: Ungefähr ein Drittel kommt aus dem Ausland, aus 72 verschiedenen Staaten. Die größte Gruppe sind natürlich die Polen. Unsere Studenten leben auf beiden Seiten der Oder, in Frankfurt und im polnischen Slubice, viele beteiligen sich an den studentischen Initiativen. Sie haben es zum Beispiel geschafft, endlich einen Busverkehr zwischen Frankfurt und Slubice einzurichten.
Darauf hatten sich beide Städte zuvor lange nicht verständigen können.
Das stimmt. Die Studenten fördern das Zusammenwachsen dieser europäischen Städte ungemein. Sie haben eine integrierende Funktion, bringen internationales Leben in die Region. Als ich an der Universität anfing, erzählte mir ein polnischer Kollege: 1991 hätten beide Bevölkerungen, Polen und Deutsche, mit dem Rücken zueinander gelebt. Das hat sich völlig verändert. Heute bewegen sich der Verkehr und die Menschen vor und zurück über die Oder-Brücke, alles ist offen. Wenn Sie von Frankfurt nach Slubice gehen, merken Sie gar nicht mehr, dass Sie in einem anderen Land sind.
Das Interview führte Johanna Metz.
Gunter Pleuger (68) ist seit 1. Oktober 2008 Präsident der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.