Als Tausende DDR-Flüchtlinge über die Botschaften in Prag und Budapest ausreisen, weint ihnen die SED-Führung „keine Träne nach”. Immer mehr Menschen zieht es auf die Straße zwischen Bangen und Hoffen auf Veränderungen. Der 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober wird zum Tanz auf dem Vulkan.
Ein Schlüsseltag in diesen Wochen ist der 30. September 1989. Außenminister Hans-Dietrich Genscher spricht vom Balkon der Botschaft in Prag: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...” Weiter kommt er nicht, die Zuhörer, ausreisewillige DDR-Bürger, brechen in hellen Jubel aus. Am Rande der UN-Vollversammlung in New York redete Genscher mit DDR-Außenminister Oskar Fischer über die unhaltbaren Zustände in der Botschaft, in der Tausende meist junge Familien ihre Ausreise erreichen wollen. Fischer reagierte hinhaltend. Genscher bat UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse um Hilfe. Er hatte nur eine Frage: „Sind Kinder dabei?” Genscher bejahte, er antwortete: „Ich helfe Ihnen.”
Bedingung für die Ausreise: Die Züge müssen durch die DDR. Die SED will wissen, wer geht. In Prag steigen die Menschen bangen Herzens ein. Zwischen Ostsee und Erzgebirge fahren Tausende nach Dresden, um in die Züge zu kommen. Dresden in Aufruhr: Polizei drängt die Menschen ab; es gibt Tumulte, Schlägereien; ziellos wandern die Leute umher, schlafen in Parks.
Am 6. Oktober beschließt die Polizei, Ausreisewilligen Papiere zu geben. Viele gehen, doch die Dresdener machen weiter. Am Abend des 8. Oktober bestimmen auf der Prager Straße eingekesselte Demonstranten 20 Leute, die mit SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer sprechen sollen. Die „Gruppe der 20” gibt Forderungen aus dem Kessel weiter: Pressefreiheit, Wahlfreiheit, Recht auf friedliche Demonstration, Reisefreiheit, Freilassung Inhaftierter, Dialog und Zulassung des Neuen Forums. Berghofer akzeptiert. Die Einigung wird am nächsten Abend in vier Kirchen mehr als 20.000 Zuhörern mitgeteilt.
Am 30. September hat die SED die Ausreise aus den Botschaften akzeptiert: Aus humanitären Gründen lasse man die Botschaftsbesetzer gehen. Doch in der Meldung der DDR-Nachrichtenagentur ADN steht: „Sie haben sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Es ist ihnen keine Träne nachzuweinen.” Nicht nur Oppositionelle oder Ausreisewillige sind empört, vielmehr SED-Genossen, Sympathisanten, Unentschlossene. Das Gefühl damals: „Jetzt reicht es! Wir haben es satt!” Die Jugend verlässt das Land und oben freut man sich – sie müssten heulen!
Der Tränensatz sorgt für Honeckers Ablösung. Seine Mitstreiter wissen: Er selbst fügte den Satz ein. Sie wissen auch: Der Satz darf nicht stehen bleiben. Am 11. Oktober heißt es in einer Erklärung des Politbüros: „Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektiven für alle.” Freundliche Worte für die Ausgereisten: „Sie hatten eine Heimat, die sie brauchte und die sie selbst brauchen.” Günter Schabowski, der mit Egon Krenz im Politbüro dafür eine Mehrheit fand, nennt die „schlappe Erklärung unseren ersten Sieg”. Der zweite gelingt am 18. Oktober. Das Politbüro stimmt über Honeckers – folgerichtige – Ablösung ab. Den 77-Jährigen hat die Zeit überholt und er versteht es nicht. Neuer Generalsekretär der SED und damit vermeintlich starker Mann wird Egon Krenz; er verspricht eine „Wende”.
Am 7. Oktober 1949 wurde die DDR gegründet. Im Kindergarten lernen die Kleinen: „Unsere Republik hat Geburtstag. Was schenken wir ihr?” Lust zum Schenken hat kaum einer. Versorgungsmängel werden immer größer. Von Schorlemmer stammt der Satz: „Blumen im Mai, Erdbeeren im Juni und freundliche Gaststätten machen das Leben leichter.” Zu den verfallenden Altstädten, in denen große Teile „auf Abriss” stehen, sagt er: „Ruinen schaffen ohne Waffen!” Die DDR verkauft hochwertige Güter in den Westen – auch Pflastersteine für Fußgängerzonen (Volksmund: „Ach wär′ ich doch ein Pflasterstein, ich könnt schon längst im Westen sein!”). Die Menschen sind jetzt im Landesarrest; selbst in die ČSSR dürfen sie nicht mehr. Denn auch sie lässt DDR-Müde westwärts ziehen. In Plauen und anderen Städten demonstrieren Zehntausende. Endzeitstimmung.
Die SED feiert den 40. Geburtstag ziemlich allein. Es läuft wie immer ab. Fackelzug der Staatsjugend, Rufe „Unsere DDR lebe hoch”, Militärparade, festliches Bankett im Palast der Republik. Gast Michail Gorbatschow führt Gespräche mit der Staatsspitze, steht bei Kundgebungen höflich nickend neben dem umtriebigen Honecker. Was Gorbatschow der DDR-Führung sagt, fasst sein Sprecher so zusammen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!” Dieser Satz motiviert zusätzlich, auf die Straße zu gehen: Schlafmütze will keiner sein.
Während die DDR-Nomenklatura im Palast wie auf einem Vulkan tanzt, spielen sich auf den Straßen erschreckende Szenen ab. Tausende Demonstranten erhalten Schläge, werden festgenommen. In Nebenstraßen stehen Lkw, die mit ihren haushohen Schilden vor der Motorhaube Hindernisse wie Barrikaden, aber auch Menschen, wegschieben können.
Der 9. Oktober 1989 ist ein Wendepunkt. Seit Anfang September gehen Menschen in Leipzig nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche hinaus auf den Ring. Erst ein paar Hundert, doch jeden Montag mehr. Am 9. Oktober soll die Entscheidung fallen. Die Staatsmacht hat aufgerüstet. Pfarrer Christian Führer erfährt anonym, harte Maßnahmen seien zu erwarten. Krankenhäuser machen Betten frei, stellen Blutkonserven bereit. Öffentlich wird angekündigt: „Die konterrevolutionären Aktionen werden beendet, wenn es sein muss, mit der Waffe.” Dennoch gehen 70.000 Menschen mit Kerzen in der Hand über Leipzigs Ring, rufen: „Wir sind das Volk” – die Antwort auf die SED-Propaganda: „Alles für das Wohl des Volkes!” 8.000 Polizisten, Stasileute und Soldaten greifen nicht ein; Befehle aus Berlin bleiben aus. Tags darauf setzt die SED die Signale auf „Dialog”. Die ARD-Tagesthemen senden Bilder vom Vorabend aus Leipzig. Moderator Hanns Joachim Friedrichs: „Ein italienisches Fernsehteam, das Filmaufnahmen in Leipzig macht, stellte uns die Bilder zur Verfügung.” Natürlich verschwieg er, dass zwei Oppositionelle gefilmt hatten.
Am 4. November 1989 veranstalten die Künstlerverbände eine Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz. Laut Schätzungen kommen fast eine Million Menschen mit selbst gefertigten Transparenten und Spruchbändern. Eines sagt: „Jetzt geht es nicht mehr um Bananen, jetzt geht es um die Wurst!” Die Organisatoren kleben an die weiße Front der Volkskammer zwei Worte: „Freie Wahlen”. Die Stimmung beschreibt Schriftsteller Stefan Heym in seiner Rede. Es sei, als habe einer „die Fenster aufgestoßen nach Jahren der geistigen, wirtschaftlichen und politischen Stagnation, nach Dumpfheit und Mief, Phrasengewäsch, bürokratischer Willkür und Blindheit.” Fünf Tage später gehen die Türen auf.
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Chronik
„Der Anfang vom Ende der DDR: Die Jahre 1985-1990”
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Text: Karl-Heinz Baum
Erschienen am 2. Oktober
2009