VERTRAG VON LISSABON
In dieser Woche tritt der EU-Reformvertrag in Kraft. Er gibt dem Parlament mehr Befugnisse, wirft aber auch neue Probleme auf
Zwar sind in Brüssel alle irgendwie erleichtert, dass der Lissabon-Vertrag nach neunjährigen Verhandlungen am 1. Dezember endlich in Kraft tritt. Doch viele ungeklärte Fragen dämpfen die Freude über das europäische Reformwerk. Auch das neue weitgehend unbekannte Führungsduo aus Ratspräsident Herman Van Rompuy und der Hohen Vertreterin für die EU-Außenbeziehungen Catherine Ashton stieß eher auf ein geteiltes Echo. Und auch im EU-Parlament, das sich auf einen gewaltigen Machtzuwachs vorbereitet, knallten keine Sektkorken. Der zuständige Berichterstatter, der Sozialist David Martin, beschrieb den Reformvertrag aber dennoch recht überschwänglich: "Die Einheitliche Europäische Akte machte aus dem Baby Europaparlament (EP) ein Kleinkind. Der Maastricht-Vertrag hat uns durch die Pubertät gebracht, mit den Verträgen von Nizza und Amsterdam wurden wir junge Erwachsene. Ich bin überzeugt, dass der Lissabon-Vertrag diesem Haus die vollen Rechte eines erwachsenen Parlaments bringt."
Hugo Brady vom Londoner Zentrum für Europäische Reform glaubt allerdings, dass das volle Ausmaß der Neuerungen erst in ein paar Jahren deutlich werden wird. "Da werden sich sicher einige Nachfolger der jetzigen Regierungschefs die Augen reiben und sagen: Wieso haben wir uns darauf bloß eingelassen?" In mehr als 40 Politikbereichen erhält das EP künftig Mitentscheidungsrechte. Darunter sind so wichtige Aufgaben wie Immigration, Justiz- und Polizeizusammenarbeit, Transport, Energiesicherheit, Datenschutz, öffentlicher Dienst und Urheberrechte. Auch bei den milliardenschweren Strukturfonds und der Agrarpolitik, die noch immer fast 40 Prozent des EU-Budgets ausmacht, reden die Abgeordneten künftig gleichberechtigt mit.
Man sei auf die neuen Aufgaben gut vorbereitet, heißt es aus allen politischen Parteien. Schließlich habe man schon immer sorgfältige Berichte zu allen Themen erstellt. Da ändere sich nur die Rechtsgrundlage. Kritische Stimmen erinnern aber daran, dass die wissenschaftlichen Abteilungen der Fraktionen des Europaparlaments deutlich kleiner sind als zum Beispiel beim Deutschen Bundestag. Die Abgeordneten müssen ihre Arbeit neu definieren. Während sie bislang viel Zeit damit verbrachten, an politisch folgenlosen Resolutionen zu feilen, bei Veranstaltungen für die europäische Idee zu werben oder außenpolitisch zu repräsentieren, tritt nun die Sacharbeit an sperrigen Dossiers in den Vordergrund. Zusätzlich wird der Lissabon-Vertrag die nationalen Parlamente mehr in die EU-Gesetzgebung einbeziehen, was häufigere Reisen der Europaabgeordneten in die Hauptstädte erforderlich machen dürfte.
Die Zahl der Parlamentssitze wird außerdem von derzeit 736 auf 751 heraufgesetzt. Einige Länder erhalten nach dem neuen Vertrag mehr Abgeordnete, Deutschland hingegen verfügt künftig über drei Parlamentarier weniger. Da aber die letzte Europawahl im Juni 2009 noch nach den Spielregeln von Nizza ablief und für Deutschland nicht 96 sondern 99 Abgeordnete ins EP einzogen, wird es bis zur nächsten Wahl drei "Überhangmandate" geben. Das Parlament hat also für die kommenden Jahre 754 Mitglieder. 18 Neulinge aus den Ländern, die nach dem Lissabon-Vertrag zusätzliche Sitze bekommen, erhalten zunächst Beobachterstatus.
Das Europaparlament hat seine Geschäftsordnung bereits entsprechend geändert. Spanien und Schweden schicken "Reserveabgeordnete", die im Juni bei den Europawahlen bereits vorsorglich gewählt wurden. In Frankreich muss es Nachwahlen geben. Die neue Zusammensetzung muss dann noch einmal von allen EU-Regierungen bestätigt werden, bevor die Neuen mit abstimmen dürfen. Der komplizierte Hickhack ist entstanden, weil durch das geplatzte erste irische Referendum rechtliche Grauzonen entstanden sind. Sie machen die Juristen nervös und verlangen von den Politikern viel Fantasie.
Eigentlich hätten die Europawahlen im Juni bereits nach den Spielregeln des Lissabon-Vertrags ablaufen und die EU-Kommission zum 1. November die Arbeit aufnehmen sollen. Stattdessen ist Barrosos alte Mannschaft noch immer kommissarisch im Amt. Am 1. Dezember soll aber die neue "EU-Außenministerin" Catherine Ashton bereits ihre Arbeit aufnehmen. Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner übernimmt dann das Außenhandelsressort, das bislang Ashton innehatte. Ashton beerbt Ferrero-Waldner und gleichzeitig Javier Solana, den Hohen Beauftragten für Außenpolitik im Rat.
Einige internationale Partner zeigen sich durch die für europäische Verhältnisse umwälzenden Neuerungen recht unbeeindruckt. Richard Morningstar, Hillary Clintons Berater in Energiefragen, sagte bei einer Podiumsdiskussion in Brüssel, auch wenn in außenpolitischen Fragen die EU einstimmig entscheide, werde es auch weiterhin viele bilaterale Kontakte zwischen den USA und einzelnen europäischen Ländern geben. Das EU-Parlament hingegen sieht durch die "improvisierte Investitur" der neuen Außenministerin seine Rechte eingeschränkt. Der EU-Vertrag verlangt, dass jeder neue Kommissar von einem Fachausschuss angehört wird. Anschließend muss sich die gesamte neue Kommission dem Votum des Plenums stellen. CDU-Außenpolitiker Elmar Brok drohte bereits Krach an und sah "gleich zu Anfang eine Verfassungskrise" heraufziehen. Er forderte, die Amtszeit von Javier Solana zu verlängern, bis am 1. Februar die gesamte neue Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann. Die Mehrheit im Auswärtigen Ausschuss sah das aber anders. Ashton soll nun am 2. Dezember Gelegenheit bekommen, sich dort vorzustellen. Im Januar soll sie wie die anderen Kommissare ein Anhörungsverfahren durchlaufen. Elmar Brok glaubt nicht, dass das Parlament, wie vor fünf Jahren, einzelne Kandidaten aus der Kommission "herausschießen" wird. Es sei im Interesse aller, dass die Kommission im Februar endlich arbeitsfähig sei. "Wir sollten keinen Streit suchen in dieser Frage."
Heftigen Streit allerdings gibt es über den neuen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Er soll Ashton bei ihrer Arbeit unterstützen und wird sich aus Mitarbeitern der Kommission, des Ratssekretariats und Diplomaten aus den Mitgliedstaaten zusammensetzen. Das Parlament will ihn zumindest formal bei der EU-Kommission angesiedelt sehen, damit es über das Budget mitbestimmen kann. Die Mitgliedsländer hingegen wollen das EU-Parlament draußen halten und streben einen unabhängigen Verwaltungsapparat an. Der Lissabonvertrag schweigt sich über dieses wichtige Detail aus. Er legt lediglich fest, dass der Dienst aus Diplomaten der EU-Kommission, Mitarbeitern aus Solanas jetzigem Stab und nationalen Diplomaten gebildet werden soll. Die neue Außenministerin macht laut Vertrag einen Vorschlag, wie sie die Behörde aufbauen will. Die Kommission muss zustimmen, der Rat einstimmig beschließen. Das Parlament wird lediglich angehört. Experten rechnen frühestens im April 2010 mit einer Ent- scheidung.
2014 wird für die EU das entscheidende Jahr. Dann wird die "doppelte Mehrheit" eingeführt. Sie besagt, dass für einen Ratsbeschluss die Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedstaaten erforderlich ist, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten. Damit wird das geltende System, in dem die Stimmen der Mitgliedsländer unterschiedlich gewichtet sind, abgelöst. Den Aufschub hatte Polen durchgesetzt, das mit dem System seinen Einfluss im Rat schwinden sieht. In einer EU, die dann mehr als 30 Mitglieder haben könnte, dürfte dieser Ab- stimmungsmodus das Einstimmigkeitsprinzip ablösen. Sonst wäre sie handlungsunfähig. Erst dann wird der Vertrag seine Wirkung entfalten. Die alte Dame Europa bewegt sich schwerfällig, aber doch erstaunlich entschlossen.