WAHLRECHT
Hitzige Diskussion über die Reform der Bundeswahlsystems
Die Uhr läuft: Bis Juni 2011 muss der neue Bundestag das Wahlgesetz überarbeiten. Das haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe bereits im Juli 2008 entschieden. Der Grund: Das sogenannte "negative Stimmgewicht", das nach den aktuellen Abstimmungsregeln auftreten kann. Der paradoxe Effekt kann bewirken, dass mehr Zweitstimmen für eine Partei zum Verlust eines Mandates führen. Doch wie soll es mit dem Wahlrecht weitergehen? Sollen die Abgeordneten im Bundestag für eine Lösung stimmen, die möglichst wenig verändert und nur das Phänomen des negativen Stimmgewichts beseitigt - oder wäre das Urteil aus Karlsruhe ein guter Anlass für einen kompletten Systemwechsel? Bei der Diskussion der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen am 26. November fanden sich Befürworter beider Positionen.
Die Kompliziertheit des deutschen Wahlsystems beklagte der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee: Für den "Normalwähler" sei es "kaum verständlich", was mit seiner Stimme passiere, wenn sie in die "kafkaeske Rechenmaschine" des deutschen Wahlsystems gesteckt werde. Isensee machte deutlich, dass es ganz unterschiedliche Möglichkeiten gibt, das verfassungswidrige negative Stimmgewicht zu beseitigen. Er betonte aber auch, dass es keinen "Stein der Weisen" gibt, der die Bedingungen aus Karlsruhe erfüllt und zudem alle zufriedenstellt. Jede Reform sei ein Kompromiss. Isensee sprach sich für ein sogenanntes "Grabensystem" aus: Bei diesem Wahlsystem wird ein Teil der Bundestagsabgeordneten durch Mehrheitswahl (wie heute die Volksvertreter mit Direktmandaten) und der restliche Teil durch Verhältniswahl (wie heute die Parlamentarier, die über die Landeslisten in den Bundestag gelangen). Diese Reform böte "den einfachsten und kürzesten Weg zu dem Ziel, den Effekt des negativen Stimmgewichts auszuschalten", sagte Isensee. Auch Überhangmandate würden nach dieser Reform nicht mehr entstehen. Um kleinere Parteien, die geringere Chancen auf Direktmandate haben, nicht zu benachteiligen, schlug Isensee vor, nur ein Drittel der Abgeordneten durch Mehrheitswahl bestimmen zu lassen.
Ein ander Vorschlag kam von Joachim Behnke, Politikwissenschaftler aus Friedrichshafen. Er forderte Zweimann-Wahlkreise für die Personenwahl. Direkt gewählt wäre dann der Sieger und der Zweitplatzierte des Wahlkreises. Diese Änderung würde das negative Stimmgewicht beseitigen, Überhangmandate verhindern und auch kleineren Parteien die Möglichkeit für Direktmandate eröffnen. Außerdem würden sich mehr Wähler zumindest einem der beiden Wahlkreisabgeordneten politisch nahe fühlen, argumentierte Behnke. Nach seiner Modellrechung hätten nach diesem System bei der letzten Bundestagswahl die Linke 30, die FDP 7 und die Grünen 2 Direktmandate erhalten.
Den Düsseldorfer Rechtsgelehrten Martin Morlok beschäftigte die Zulassung der Parteien und die Wahlprüfung. Anlass für seine Kritik war das Zulassungsverfahren für sogenannte "Splitterparteien". Über ihre Zulassung zu den Bundestagswahlen entscheidet der Bundeswahlausschuss. Morlok kritisierte, dass in dem Gremium nur Vertreter großer Parteien sitzen. Diese bestimmten den "Zugang zur Konkurrenz"; das könnte zur "Quelle des Misstrauens" werden.
Laut Morlok sollten daher allein die Unterstützerunterschriften über die Parteizulassung entscheiden. Wenn eine Vereinigung für die Zulassung einer Landesliste genug Unterschriften sammle, sei das ein ausreichender Nachweis für ihren Organisationsgrad. Außerdem sollte es möglich sein, Beschwerden gegen den Wahlablauf schon vor der Abstimmung zu prüfen - bislang geht das nur nachher.