Etwas verloren steht er da. Viel Platz hat er nicht, er berührt fast die Decke. Um ihn herum: kalte graue Marmorböden, eine Garderobe, breite Treppen. Vom Eingang weht ein eisiger Luftzug herüber, jedesmal wenn sich die Pforte öffnet. Aber er gibt sich alle Mühe, mit seinen grünen Zweigen und den leuchtenden künstlichen Kerzen etwas Heimeligkeit zu verbreiten.
Seit dem 26. November steht er im Ostfoyer des Reichstagsgebäudes, der Weihnachtsbaum, den der Verein "Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung" seit zwölf Jahren stets zu Beginn der Adventszeit dem Bundestag stiftet. Den passenden Weihnachtsschmuck bastelt jedes Jahr eine andere Lebenshilfe-Werkstatt. Diesmal waren es die Mitarbeiter der Werkstatt Mittleres Erzgebirge in Marienberg, die den Baum mit laubgesägten bunten Holzsternen und Glasperlen geschmückt haben.
Und jetzt verfolgen sie stolz die Übergabe. Musikalisch wird sie dieses Jahr von Martina Zilske und ihren beiden Adoptivtöchtern, der elfjährigen Marie und der neunjährigen Lily, eingerahmt. Marie (im Bild links) und Lily haben beide das Down-Syndrom. Und sie beweisen, dass Musik eine universale Sprache ist, die alle Menschen verstehen können: Als sie das kalte Foyer mit warmen Flötenklängen erfüllen, schweigen die zuvor munter plaudernden Parlamentarier, unter ihnen auch Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), andächtig still.
Unterdessen nutzt Robert Antretter, Bundesvorsitzender der Lebenshilfe, die wohlige Stimmung, um politische Belange zu formulieren. Er dankt den Politikern dafür, dass sie bereits am Ende der vergangenen Legislaturperiode die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen im Bundestag ratifiziert hätten. Gleichzeitig fordert er jedoch, den neunmonatigen Zivildienst zu erhalten: "Die Verkürzung der Wehrdienstzeit und damit auch der Zivildienstzeit auf sechs Monate wird in unseren Einrichtungen und Diensten große Probleme verursachen", meint Antretter, der selbst für die SPD fünf Wahlperioden lang im Bundestag saß. Auch an die Belange behinderter Menschen erinnert er, wobei Familie Zilske ihm als anschauliches Beispiel dient. "Kinder wie Marie und Lily sollen mit nichtbehinderten Kindern aufwachsen und lernen können", sagt er.
Dass dies in Deutschland auch im Jahre 2009 nicht oft genug der Fall ist bestätigt Martina Zilske, die selbst als Musiklehrerin arbeitet: "Ich will mich nicht mit den Eltern von 20 anderen Kindern um fünf Plätze an integrativen Schulen prügeln müssen." Das sei der Grund, weshalb sie jetzt hier stehe und musiziere.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt bedankte sich ausdrücklich bei Lily und Marie Zilske, die "uns mit ihrer Musik eine große Freude bereitet haben. Sie haben uns außerdem daran erinnert, dass es noch eine Welt außerhalb dieses Hauses gibt". Auch den Baumschmückern aus Marienberg dankte die Grünen-Politikerin. Der Weihnachtsbaum werde die Abgeordneten in den nächsten Wochen jeden Morgen begrüßen. Doch damit sei seine Aufgabe bei weitem nicht erfüllt: "Der Baum ist auch eine Verpflichtung." Eine Verpflichtung, die Integration und Gleichberechtigung behinderter Menschen weiter voranzutreiben. "Behindert ist man nicht, behindert wird man", ist sich Göring-Eckhardt sicher.
Martina Zilske sind warme Worte allerdings nicht genug. Die resolute Musiklehrerin will Taten sehen. Vor dem letzten Lied zwingt sie die anwesenden Politiker zum Handeln: "Wir Rheinländer", erklärt die in Leichlingen in Nordrhein-Westfalen lebende Zilske, "sind ein gefürchtetes Volk. Bei uns müssen alle mitsingen." Ausflüchte lässt sie nicht gelten. "Sie schaffen das schon", lächelt sie aufmunternd. Und tatsächlich: Nach zögerlichem und etwas schiefem Beginn füllt bald voller Parlamentariergesang das Foyer. "Wir sagen euch an, den lieben Advent. Machet dem Herrn den Weg bereit!"