POlitische Kultur
Sebastian Ullrich räumt auf mit dem Weimar-Komplex
Eine merkwürdige Lust geht um in Deutschland: Wann auch immer die Bundesrepublik politisch, sozial oder ökonomisch in schwieriges Fahrwasser gerät, fühlen sich die Schwarzseher berufen, an das Ende der ersten Demokratie auf deutschem Boden, das Scheitern der Weimarer Republik zu erinnern. Zuletzt war dieses Phänomen Anfang des neuen Jahrtausends zu beobachten, als die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder mit der umstrittenen "Agenda 2010" auf Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung reagierte. "Haben wir Weimarer Verhältnisse, Herr Bundeskanzler?" überschrieb 2005 die "Welt am Sonntag" ein Interview mit Schröder, die "Financial Times Deutschland" sah drei Jahre zuvor das "Gespenst von Weimar" in Berlin spuken und "Die Welt" fragte besorgt: "Sollte Berlin nun doch Weimar werden?" Den Vogel schoss allerdings Oskar Lafontaine ab, als er Schröder in seiner "Bild"-Kolumne mit Heinrich Brüning verglich, jenem "Reichskanzler, der mit seiner Sparpolitik Massenarbeitslosigkeit verursachte und Hitler den Weg bereitete".
Auch in der aktuellen Diskussion über Politikverdrossenheit und sinkende Wahlbeteiligungen wird gerne auf die Weimarer Republik verwiesen. Dabei steht der offensichtlichen Angst der Deutschen vor einem "zweiten Weimar" jene Erkenntnis entgegen, die Fritz René Allemann, Deutschlandkorrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" bereits 1956 der noch jungen Republik ins Stammbuch geschrieben hatte, und die seitdem gerne an politischen Gedenktagen zitiert wird: "Bonn ist nicht Weimar."
Den "Weimar-Komplex" der Deutschen hat Sebastian Ullrich in einer umfassenden und höchst gelungen wissenschaftlichen Untersuchung aufbereitet, mit der er im vergangenen Jahr an der Humboldt-Universität promovierte. Allerdings interessiert Ullrich weniger, wie seriös solche Weimar-Vergleiche heutzutage sind. Er zeichnet nach, wie groß die Angst vor einem erneuten Scheitern der Demokratie bei Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1948 wirklich war, welche Vorbehalte es gegen die Weimarer Republik gab und welche Konsequenzen daraus gezogen wurden.
Ullrich arbeitet anhand einer detaillierten Auswertung des reichhaltigen Quellenmaterials überzeugend heraus, dass die "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik heute allzu geradlinig erzählt wird. Denn über die viel zitierten "Lehren aus Weimar" bestand zwischen den politischen Lagern und Akteuren nach 1945 alles andere als Konsens - selbst in den grundlegenden Entscheidungen nicht, die die heutige Bundesrepublik prägen. Während Sozialdemokraten und Linksliberale prinzipiell der parlamentarischen Parteiendemokratie positiv gegenüberstanden, gab es im konservativen und rechtsliberalen Bürgertum große Vorbehalte gegen ein parlamentarisches Regierungssystem. Unter den Sozialdemokraten wiederum stieß die Rückkehr zu einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf Widerstand.
Die unterschiedlichen Standpunkte waren aber nicht allein Ausdruck einer politischen Grundhaltung, sondern in ihnen spiegelten sich auch immer die Antworten auf die Frage, warum Weimar gescheitert ist. Selbst in so unverdächtig erscheinende Fragen wie nach den Hoheitssymbolen des zu schaffenden neuen deutschen Staates spielten die Erinnerungen an Weimar hinein. So einigte man sich im Parlamentarischen Rat zwar zügig auf Schwarz-Rot-Gold als Farben der Bundesflagge, allerdings war die Rückkehr zur traditionellen Trikolore der Weimarer Republik zunächst durchaus umstritten.
Das Ergebnis der Neuordnung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, so bringt es Ullrich auf den Punkt, sei in gewisser Weise paradox: "Die konkurrierenden politischen Lager setzten ihre ,Lehren aus Weimar' jeweils in dem Bereich durch, den sie nicht für den entscheidenden hielten, die Sozialdemokraten im Bereich der Verfassung, die Konservativen im Bereich der Wirtschaftsorganisation."
Der Weimar-Komplex.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009; 679 S., 48 ¤