Politischer Roman
Jo Lendle entzaubert literarisch die Protestkultur der 1980er Jahre
Es ging um alles. Um die Nachgeborenen, das System, die Schöpfung." Große Worte, gelassen ausgesprochen von einem 1968 geborenen Autor in einem Buch, das einem Pubertätsroman ziemlich nahe kommt. Einem Pubertätsroman allerdings, in dem es um mehr geht als um die erste große Liebe. Er heißt "Mein letzter Versuch, die Welt zu retten" und spielt in den 1980er Jahren. Genau genommen in einer Region, die nur wenige Jahre nach Mutlangen und Brokdorf zu einem Zentrum politischen Protests wurde: Im niedersächsischen Wendland, wo vor inzwischen einem Vierteljahrhundert der erste Atommülltransport durch das Zonenrandbiet fahren sollte.
Florian heißt der Ich-Erzähler, der wohl kaum zufällig genau so alt ist wie sein Erfinder Jo Lendle. Er ist 17, als er sich aufmacht, die Welt zu retten. Jung - und dennoch schon fünf Jahre älter als zu Beginn seiner Polit-Aktivität. Mit zwölf setzte Florian sein erstes Schreiben ans Kreiswehrersatzamt auf: Seit der letzten Schulhofprügelei lebe er völlig gewaltfrei, erklärte er den Zuständigen für die Einberufung männlicher Bürger. Mit dem Dienst an der Waffe sei bei ihm also nicht zu rechnen. Auch wenn das Kreiswehrersatzamt der Früh-Verweigerung nicht folgen wollte, machte Florian zwei Menschen mit diesem Schreiben überaus glücklich: Seine linksalternativen Eltern.
Dass der Junge durchaus in der Lage ist, eine Waffe zur Hand zu nehmen wird sich später zeigen; in einer wunderbaren Sequenz, in der den protestierenden Kindern der Mittelschicht so ziemlich alles außer Kontrolle gerät. Statt einer Barrikade brennt der ganze Wald; eine Pistole kommt ins Spiel; ein Mädchen schreit; und dann ist da noch die Grenze zur DDR. Der Ernstfall ist eingetreten!
Dabei beginnt alles ganz harmlos. Vor der Welt retten Florian und seine Freunde erst einmal ein paar Bäume, die zu diesem Zweck mit gelben Punkten versehen werden. Sie kleben nachts Plakate. Sie machen ein Anti-Gewalttraining, auf dem sie Gerechtigkeit spüren, indem sie verschieden große Kuchenstücke für verschieden mächtige Kontinente essen. Und bei dem sie lernen, dass vielleicht ja der politische Gegner gewalttätig wird und sich sicherheitshalber die Telefonnummer der Ermittlungshilfe auf den Arm schreiben. Erst danach machen sie sich auf den Weg zur Blockade: Getarnt als Jugendkammerchor im Bus des Pfarrers.
Der Versuch, die Welt zu retten, umfasst kaum mehr als 48 Stunden. Zeit genug für den Autor, ein wahres Feuerwerk an Erinnerungen zu entfachen; an früher wie auch an bizarre Diskussionen über Protest. In einer der schönsten Szenen versuchen die zahllosen kleinen Protestier-Grüppchen bei ihren abendlichen Treffen eine große starke Gruppe zu werden. Man streitet sich, natürlich, über die Frage der Gewalt. "Einer rief: Glaubwürdigkeit, und schon schrie es von allen Seiten: Konsequenz!", heißt es da, "jeder Menschenwürde wurde ein Menschenleben vorgehalten." Am Ende fällt die Versammlung auseinander. Im Tumult setzt sich ein Schreihals mit dem absurdesten aller denkbaren Vorschläge durch: Bauern und Frauen, Gewaltfreie und Autonome kämpfen je auf eigenen Straßen gegen Atommüll.
Mit grandioser Leichtigkeit holt Jo Lendle angestaubte Insignien einer vergangenen Zeit zurück. Polit-Sticker und Latzhosen, VW-Busse und Batikklamotten - fehlt nur noch, dass Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader noch einmal anfangen von Schmuddelkindern und Nomadentum zu singen! Vieles an Lendles Roman ist 80er Jahre, ist BRD-, Mauer-, und Waldsterben-Zeit. Aber nicht alles. Die Diskussionskultur hat bis heute noch jeden G-8-Gipfel überstanden; ebenso die Selbstgewissheit mancher Protagonisten. Woran das liegt? Jo Lendle geht böse mit ihr ins Gericht: "Der gute Zweck heiligte nicht nur die Mittel, sondern auch uns selbst. Jedes unserer Goldenen Kälber war ein unschuldiges Tier mit großen Augen Wir waren die kritische Masse."
Mein letzter Versuch, die Welt zu retten.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009; 256 S., 19,95 ¤