Sehr verehrter Herr Präsident,
sehr verehrte Frau Birthler, sehr verehrter Herr Eppelmann, sehr
verehrte Abgeordnete, liebe ehemalige Flüchtlinge, meine sehr
verehrten Damen und Herren !
Folgen Sie mir an die Ostseeküste, nach Warnemünde.
Die Dunkelheit der Nacht senkt sich allmählich über den
Strand. Die See ist ruhig. Welle auf Welle rollt an den Strand. Es
ist ein besonderer Abend. Es ist der Abend des 29.
“Geburtstages der Republik”, der 7. Oktober 1978.
Zwei junge Berliner schlüpfen in ihre
Neopren–Anzüge und gehen in Höhe des Kurhauses in
das schon ziemlich kalte Wasser der Ostsee. Sie rechnen an diesem
Abend wegen der Feierlichkeiten mit weniger Bewachung der
Küste.
Erst langsam, dann schneller schwimmen sie um die Westmole herum in
Richtung Hafenausfahrt. Ihr Ziel ist die Fähre nach Gedser.
Während des Wendemanövers der Fähre wollen sie sich
mit einem Seil an die Fähre hängen und nach Dänemark
ziehen lassen. Ein tollkühner Plan. Doch sie haben sich in der
Entfernung verschätzt und erreichen die Fähre nicht
rechtzeitig. Unerreichbar für die Schwimmer zieht die
Fähre davon und mit ihr der Traum von der Freiheit, von einem
selbstbestimmten Leben.
Resigniert schwimmen sie an das Ufer zurück. Sie verstecken
ihre Anzüge in einem Strandkorb, wollen es am nächsten
Abend vielleicht noch einmal versuchen. Dabei beobachtet sie einer
der viel zu vielen sogenannten “Freiwilligen Helfer”.
Der denunziert sie sofort bei der Volkspolizei. Polizisten legen
sich auf die Lauer. Als die beiden 26jährigen am nächsten
Tag ihre Neopren–Anzüge und das Seil aus einem
Strandkorb holen wollen, werden sie verhaftet.
Als wir vor rund sieben Jahren die Idee zu einer Wanderausstellung
über die Ostseefluchten aus der DDR entwickelten, wollten wir
Schicksale wie dieses vor dem drohenden Vergessen bewahren.
Zugleich nahmen wir uns vor, ein Kapitel jüngster deutscher
Zeitgeschichte zu beleuchten, dass einerseits viele Menschen sowohl
in den neuen als auch in den alten Bundesländern betrifft,
andererseits aber bis dato öffentlich wenig Aufmerksamkeit
fand.
Damals haben wir uns nicht träumen lassen, dass wir unser
Projekt einmal im Deutschen Bundestag würden präsentieren
können.
Wir haben in den folgenden Jahren schon eine ganze Reihe
interessanter Städte und Gegenden mit der Ausstellung bereisen
können und großen Zuspruch erfahren.
Aber dieses hier ist zweifellos ein ganz besonderer Ausstellungsort
und ein ganz besonderer Moment. Mit dieser Ausstellung und diesem
Thema im Deutschen Bundestag sein zu können, ist für die
damaligen Flüchtlinge eine tiefe Genugtuung und für den
Verein eine schöne Anerkennung all der Mühen. Ort und
Ereignis sind Symbole für die politischen und rechtlichen
Verhältnisse, von denen die meisten der Ostseeflüchtlinge
träumten, als sie ihre wagemutigen Fluchten umsetzten. Sie
sind zudem ein Stück öffentlicher Würdigung in
Zeiten, in denen sich nicht nur mancher der Flüchtlinge fragt,
ob die DDR aus dem Grab aufersteht und durch die Hintertür
wieder zurück ins Haus schleicht.
Auch Berlin an sich ist als Ort für eine Ausstellung wie
unsere in verschiedener Hinsicht etwas Besonderes.
Berlin ist als gesamte Stadt das Symbol deutscher Teilung
schlechthin und der Ort, an dem man seit dem 13. August 1961 besser
als anderswo wusste, was es bedeutete, von Freunden, Verwandten und
Bekannten durch einen “Eisernen Vorhang” scheinbar
für immer getrennt zu sein.
In Berlin wurden zu DDR–Zeiten in rücksichtslosem
Zentralismus alle wichtigen politischen, rechtlichen,
ökonomischen und sozialen Fragen vom
“Klassenstandpunkt” aus durch einen kleinen
Klüngel von SED–Mächtigen entschieden. So auch die,
das eigene Volk einzusperren, ihm Weltanschauung im
buchstäblichen Sinne zu verwehren.
Zudem ist Berlin ein Ort, in dem viele lebten, die aus der DDR raus
wollten, dies aber nicht über Mauer und grüne Grenze,
sondern über die “nasse Mauer” der Ostsee
versuchen wollten.
Und schließlich ist Berlin eine Metropole, in der gerade
wegen der Wiedervereinigung und ihrer wiederhergestellten
Internationalität das gegenwärtige und künftige
Leben kräftig pulsiert, vor allem politisch und kulturell. Und
wo man gerade deshalb möglichst viel über das vergangene
Woher wissen sollte, so wie der Wanderer, der seinen weiteren Weg
nur bestimmen kann, wenn er weiß, woher er gekommen
ist.
15 Jahre ist es her, dass die letzten Frauen, Männer und
Kinder versuchten, auf dem Land–, Luft– oder Seeweg aus
der DDR zu entkommen, auf der Flucht vor dem SED–Experiment
einer vermeintlich besseren Gesellschaft, die angeblich allein dem
“Wohl des werktätigen Menschen” verpflichtet
war.
Erst oder schon 15 Jahre ist es her, dass bereits derjenige
DDR–Bürger, der nur die Welt kennen lernen wollte,
dafür den Leidensumweg über Hohenschönhausen,
Rummelsburg oder Bautzen gehen und/oder eine lebensgefährliche
Flucht unternehmen musste.
Von Beginn an war die Flucht zigtausender aus der DDR eines der
Hauptprobleme des ersten “Arbeiter– und Bauernstaates
auf deutschem Boden”. Zeigte doch diese “Abstimmung mit
den Füßen”, was ein Großteil, wenn nicht
sogar die große Mehrheit der DDR–Bürger schon nach
kurzer Erfahrung von dem neuen Versuch hielt.
Zwischen der Gründung der DDR im Oktober 1949 und dem Vorabend
des “Mauerbaus” am 13. August 1961 flohen – noch
unter relativ einfachen Umständen – knapp 2,7 Mill.
Frauen, Männer und Kinder vor der Verfolgung für
friedliches Anderssein, Andersdenken oder anderes Wollen. Sie
flohen vor Repressalien, die vom Abiturverbot bis zum Zuchthaus
reichen konnten. Zwischen Mauerbau und Mauerfall kam dann unter
ungleich schwereren Bedingungen noch mal gut eine Million
freigekaufter politischer Häftlinge, Flüchtlinge und
Übersiedler hinzu.
Um den Massenexodus zu stoppen ließ die SED seit 1952 und
verstärkt mit dem “Mauerbau” 1961 ein
beispielloses, gegen die eigene Bevölkerung gerichtetes
Grenzsperrsystem um Berlin und an der sogenannten grünen
Grenze errichten.
Walter Ulbricht, Erich Honecker und ihre zahlreichen großen
und kleinen Helfer versuchten, die Menschen im östlichen Teil
Deutschlands dauerhaft vom westlichen Teil, von ihren Verwandten
und Freunden abzuschneiden. “Kalter Krieg” herrschte,
und “kalte Krieger” gab es beiderseits des
“Eisernen Vorhangs”. Doch der 13. August 1961 und die
“Mauer” in Berlin wurden zum Menetekel für einen
Staat, der vor allem pathologische Angst vor dem eigenen Volk hatte
und an seiner selbst verordneten Enge erstickte.
All diese Dinge können sich die jungen Leute heute, egal ob
aus den neuen oder alten Bundesländern, zum Glück kaum
noch vorstellen! Für die Nachwachsenden ist die deutsche
Teilung fast so weit weg wie der Bauernkrieg.
Für viele von Ihnen aber, meine sehr verehrten Damen und
Herren, und auch für die Mitglieder unseres kleinen Vereins
ist und bleibt es ein mehr oder weniger großer Teil unseres
Lebens. Und die Erinnerung daran bleibt ein Gebot der Vorsorge
für die Demokratie.
Anders als an der sogenannten “Staatsgrenze West” oder
in Berlin ließ sich die nördliche Grenze, die
Ostseeküste, mit ihren Buchten, Haffs und Stränden nicht
einfach absperren. Außerdem war die Ostseeküste das
größte Urlaubergebiet der DDR, in dem sich jedes Jahr
hunderttausende DDR–Bürger erholten. 59 Zeltplätze
und 37 Bootshäfen (Stand 1988) ließen sich kaum noch
durch Stasi, Polizei und Grenzbrigade Küste
überwachen.
Da man also die Küste nicht einfach zumauern konnte,
installierte der SED–Staat ein engmaschiges, tief
gestaffeltes Grenzsystem. Zudem legte die Stasi einen düsteren
Schleier der Überwachung über das gesamte Land.
Misstrauen wurde auch an der DDR–Ostseeküste ein
Grundelement zwischenmenschlicher Beziehungen.
Seit die DDR 1961 Westberlin und die innerdeutsche Grenze
abriegelte, sahen viele Menschen im Weg über das Meer einen
scheinbar ungefährlicheren Weg zu entkommen. Leider erwies
sich das für viele als ein tragischer Irrtum.
Die Ausstellung versucht, diesen Aspekt jüngster deutscher
Vergangenheit anschaulich nahe zu bringen. Sie erzählt vor
allem von den Menschen, von den Schicksalen einiger
Flüchtlinge, von erfolgreichen Versuchen und leider auch von
tragisch gescheiterten.
Die Exposition tourt seit fünf Jahren durch Deutschland und
war unter anderem in Schwerin, Rostock, Stralsund, Lübeck,
Wismar, Greifswald, Düsseldorf und Kiel zu sehen. Auch
über die deutschen Grenzen hinaus hat die Ausstellung bereits
für Aufmerksamkeit gesorgt, Ende 2002 im dänischen
Nyköbing auf Falster.
Die Ausstellung zeigt, welche bedrückende, vor allem auch
geistige Enge in der DDR durch die Abschottung entstand. Sie legt
zugleich aber auch Zeugnis ab von der Widerstandskraft des
einzelnen Menschen und von der
Kraft, dem Mut und der
Möglichkeit, Bedrückendes selbst zu überwinden.
Sie leistet damit auch einen kleinen Beitrag gegen ostalgische
Verklärung angesichts aktueller Probleme.
Träger der Ausstellung ist der Verein “Über die
Ostsee in die Freiheit”, den es seit Juni 1998 gibt. Erstmals
zum 10. Jahrestag der Grenzöffnung am 9. November 1999 in
Schwerin gezeigt, sahen bereits ca. 70 000 Besucher die
Exposition.
Im Namen des Vereins möchte ich mich bei allen bedanken, die
diese Ausstellung durch ihre Hilfe ermöglichten, hier und
heute insbesondere bei Ihnen, meine sehr verehrten Abgeordneten,
und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED–Diktatur. Ist es
doch nur durch die Schaffung dieser Institution und deren
großzügige Förderung überhaupt erst
möglich gewesen, unsere Ausstellungsidee zu verwirklichen. Und
das die Gelder gut angelegt sind, davon können wir sie
hoffentlich nachher überzeugen.
Besonderer Dank gebührt aber auch dem Landesbeauftragten
für die Stasi–Unterlagen des Landes
Mecklenburg–Vorpommern, der uns über die Jahre
große Unterstützung zukommen ließ, ferner dem
Delius–Clasing–Verlag, der seit 1991 mit seinen
Publikationen zum Thema wichtige öffentliche Impulse gab und
schließlich unserer Layout–Firma eye–D, die,
welch Zufall, aus Berlin kommt. Unser Dank gilt heute ferner den
MitarbeiterInnen des Referates PI 5 der Bundestagsverwaltung
für die organisatorisch–technische Vorbereitung.
Danken möchte ich aber vor allem denjenigen Frauen und
Männern, die zu DDR–Zeiten durch ihre Fluchten auf dem
Land–, Luft– oder Seeweg Zeichen setzten und heute das
Anliegen der Aufarbeitung und damit auch unseres Vereins durch
Beratung, Informationen und Ausleihe von originalen
Fluchtgegenständen unterstützen.
Ich wünsche Ihnen, meine sehr verehrten Gäste, einen
interessanten Gang durch ein nahes und gleichermaßen fernes
Stück deutscher Geschichte und der Ausstellung eine gute
Resonanz. Insbesondere hoffe ich, dass viele Lehrer und
Schüler die Gelegenheit nutzen, jüngster Vergangenheit
jenseits von Schulbüchern zu begegnen und zu erfahren, mit
welchem Mut und Erfindungsreichtum Ostdeutsche den Weg in ein
selbstbestimmtes Leben suchten und fanden.
Denjenigen, die sich über den Besuch der Ausstellung hinaus
mit dem Thema “Ostseefluchten” und packenden
Einzelschicksalen beschäftigen wollen, seien
abschließend die zum Verkauf angebotenen Bücher von
Christine Vogt–Müller, der Autorin der Ausstellung, und
ihres Ehemannes Bodo Müller wärmstens empfohlen.
Ich danke ihnen für ihre Aufmerksamkeit.