Einführung in die Ausstellung von Christine
Vogt-Müller
Sehr verehrter Herr
Bundestagspräsident, sehr verehrte Frau Birthler, sehr
verehrter Herr Eppelmann, sehr verehrte Abgeordnete, liebe
Zeitzeugen, sehr geehrte Damen und Herren,
mit der totalen Abschottungspolitik der DDR gegen den Westen und
dem Bau der Mauer mitten durch Berlin am 13. August 1961 wurde auch
die DDR–Ostseeküste militärisch durch die
Grenzpolizei abgeriegelt. Unter der Parole “Gefechtsklar an
der Seeflanke” und “Blaublusen voran, dem Feind keine
Lücke” sicherte sie die Seegrenze zu Lande und zu
Wasser.
Seit dem ebbte der Flüchtlingsstrom aus der DDR zwar
drastisch ab, doch in den folgenden 28 Jahren bis zum Mauerfall
versiegte er nie ganz. Trotz der tödlichen Gefahren an den
Grenzen gab es immer wieder Menschen, die die Diktatur der SED
konsequent ablehnten und eine Flucht wagten.
Während in Berlin die Sperranlagen wuchsen und an der
innerdeutschen Grenze Minengürtel gelegt und
Selbstschussanlagen installiert wurden, konnte man den Zugang zur
Ostsee nicht vermauern. Das hieße, für Millionen von
DDR–Bürgern das beliebteste Urlaubsziel zu sperren.
Dieser Versuch war 1952 schon einmal gescheitert, als man auch an
der Ostsee ein Grenzregime mit Sperrgebiet wie das an der
innerdeutschen Grenze installieren wollte.
So ließ die SED–Führung an der
Ostseeküste eine fast “unsichtbare Mauer”
errichten.
Sicher erinnern sich manche von Ihnen an die grauen
Betontürme und Stahlgittermasten an der
DDR–Ostseeküste, die an den Stränden zwischen
Pötenitz im Westen und Ahlbeck im Osten standen – sie
waren die sichtbaren Elemente dieser Grenze. Ihre Scheinwerferkegel
tauchten nachts Strand und Meer in grelles Licht. Zuletzt gab es 75
Beobachtungsstellen, ausgerüstet mit Scheinwerfern, speziellen
Sichtgeräten, teils mit Videokameras und Radargeräten
bestückt. Um so genannte »Angriffe gegen die
Seegrenze” bzw. “Grenzdurchbrüche” zu
verhindern, war seit dem 1. November 1961 die Grenzbrigade
Küste im Einsatz, hervorgegangen aus der Grenzpolizei.
Seit den 1970er Jahren bewachten rund 2500 Mann in Uniform die
DDR–Ostseeküste, 1700 an Land und 800 Matrosen und
Offiziere auf See.
Bei der Verfolgung von Flüchtlingen auf See arbeitete die 6.
GBK eng mit der Volksmarine und dem Marinehubschraubergeschwader
zusammen. Was das bedeutete, musste eine Familie aus Eberswalde
erfahren:
Klaus E. plante die Flucht mit einem Motorboot mit seinen beiden
fast erwachsenen Söhnen Niels und Sieghard, nach dem die
Mutter wie vereinbart, von ihrem Verwandtenbesuch im Westen nicht
zurückgekehrt war. Klaus E. hatte einen 40 PS
Yamaha–Motor besorgen können. Er war sich sicher, den
Wachschiffen davon fahren zu können.
Beim Ablegen vom Badeort Zingst wurden sie von einem Fischer
beobachtet, der die Flucht sofort meldete. Klaus E. vertraute auf
den schnellen Motor, obwohl beim Abslippen vom Trailer ein
Steuerseil gerissen war. Womit er aber nicht gerechnet hatte: Aus
dem Dunst des frühen Morgen löste sich bald ein
Kampfhubschrauber und flog direkt auf sie zu. Im Tiefflug raste er
immer wieder über die Flüchtlinge hinweg, dann senkte
sich der Helikopter so tief über das Flüchtlingsboot,
dass ein Rad Sieghard am Kopf traf und die Windschutzscheibe des
Bootes splitterte. Der Co–Pilot zielte währenddessen mit
der Maschinenpistole auf die Flüchtlinge. Nach vier Stunden
Verfolgung waren sie von fünf Wachschiffen eingekreist –
und sie mussten aufgeben.
Bittere Realität auf der Ostsee zur Zeit des Kalten Krieges,
von der SED–Propaganda gern als “Meer des
Friedens” bezeichnet.
Zum Netz der Überwachung gehörten außer
Grenzbrigade Küste und Volksmarine auch die Volkspolizei,
Transport– und Wasserschutzpolizei, der Zoll, das Ministerium
für Staatssicherheit sowie die Abteilungen Inneres der
Räte des Bezirkes, der Kreise, Städte und Gemeinden sowie
die Betriebe im damaligen Bezirk Rostock, um nur die wichtigsten zu
nennen. Zudem arbeiteten viel zu viele freiwillige aus der
Bevölkerung sowohl für die Grenztruppen, die Volksmarine,
als auch für die Polizei. Allein 800 so genannte freiwillige
Helfer waren 1989 für die Grenzbrigade Küste tätig.
Ihr Anteil an der Verhinderung von Fluchten Betrug immerhin etwa 10
Prozent.
Ein Beispiel dazu:
Zwei Brüder aus Güstrow hatten zwei Jahre lang ein
U–Boot ähnliches Fahrzeug gebaut. Im April 1987
versteckten sie die drei Segmente ihres vier Meter großen
Bootes in einem Gebüsch am Strand von Kühlungsborn. Einen
Tag vor ihrer Flucht erkundeten sie noch einmal die Gegend. Einem
Spaziergänger schenkten sie dabei keine Beachtung. Doch als
sie einen Tag später ablegen wollten, waren am Strand zwei
Mannschaftswagen der Grenztruppen aufgefahren, auf See
patrouillierten zwei Wachschiffe. Die Brüder wurden verhaftet.
Der scheinbar so harmlose Spaziergänger war als Freiwilliger
Helfer der Grenzbrigade unterwegs gewesen, dem das ortsfremde
Kennzeichen am Wartburg verdächtig vorgekommen war, und er
hatte seinen Verdacht gemeldet.
Gängige Praxis der Sicherheitsorgane in der DDR war es
zudem, Flüchtlinge auch über die Hoheitsgewässer
der DDR hinaus zu verfolgen und aus dem internationalen Fahrwasser
zurück zu holen. Der völkerrechtliche Grundsatz von der
Freiheit der Meere, wonach die Hohe See der Staatsgewalt einzelner
Staaten entzogen ist, wurde von der DDR ständig verletzt,
obwohl auch der SED–Staat Unterzeichner internationaler
Seerechtskonventionen war. Diese Praxis belegt auch die Geschichte
eines jungen Paares, das 28 Stunden lang geschwommen war, und sich
dann auf eine Fahrwassertonne außerhalb der
DDR–Hoheitsgewässer gerettet hatte. Unter Androhung von
Gewalt wurden sie von der Besatzung eines DDR–Wachschiffes an
Bord gezwungen, obwohl sie sich im internationalen Gewässer
befanden.
Trotz einer immer perfekter organisierten Seegrenze entwickelte
sich die Ostsee quasi zu einem “Geheimtipp” für
DDR–Flüchtlinge:
Fischer wurden zu Fluchthelfern oder flohen selbst mit ihren
Familien, andere flüchteten mit ihren Sportbooten, segelten
bei Nacht und Nebel davon, andere surften bei Sturm, wieder andere
wagten sich mit dem Paddel–, Schlauch– oder Faltboot
und sogar mit Luftmatratzen auf die Ostsee. Immerhin etwa ein
Drittel der über 5000 Ostseeflüchtlinge versuchte gar,
über die Ostsee zu schwimmen.” Wie ein Arzt aus Rostock,
der für seine Karriere nicht in die SED eintreten wollte. Er
trainierte zwei Jahre lang, im Sommer 1975 schwamm er von
Kühlungsborn 48 km weit in 25 Stunden und erreichte die Insel
Fehmarn.
Not und Leidensdruck, aber vor allem die Hoffnung auf ein Leben in
Freiheit weckten bei manch einem Flüchtling einen ungeheuren
Erfindergeist: Mit technischem Sachverstand und, wie in der DDR
unentbehrlich, mit Talent zum Improvisieren, bauten sie
Surf–Bords, Tauchgeräte, Unterwassermotoren, Torpedo
ähnliche Fahrzeuge und sogar U–Boote.
Eine Erfindung eines Flüchtling machte besonders Furore: Der
ehemalige Magdeburger Ingenieurstudent Bernd Böttger baute
1967 den ersten Unterwassermotor, von dem er sich durch das Wasser
ziehen ließ. 1968 gelang ihm damit eine spektakuläre
Flucht. Noch heute werden Weiterentwicklungen in Italien gebaut.
Auch zwei seiner Geräte sehen Sie hier in unserer Ausstellung.
Doch Bernd Böttger lebt nicht mehr. Gesund und kräftig,
starb er 1972 einen mysteriösen, bis heute ungeklärten
Tod, als er für seine Firma einen neuen Scooter testete.
In den 1980 Jahren registrierte das MfS an der Seegrenze eine
“Zunahme spektakulärer Fluchtversuche” –
gemeint waren damit Fluchtversuche mit U–Booten. So hatte
1980 ein Rostocker Elektronikingenieur in der Garage mitten in
einem Neubaugebiet heimlich ein Ein–Mann–U–boot
konstruiert und gebaut. Es war seine letzte Hoffnung, sich aus den
Fallstricken der Stasi zu befreien. – Einige der
außergewöhnlichen, maritimen Fluchtgeräte
können sie anschließend bei Ihrem Rundgang durch die
Ausstellung in Augeschein nehmen.
Insgesamt 4522 Männer, Frauen und Kinder verfingen sich im
Netz der Überwachung an und auf der Ostsee und wurden
festgenommen. Ihr Weg in die Freiheit führte über eines
der berüchtigten Gefängnisse zwischen Rostock, Cottbus,
Hoheneck und Bautzen. Mindestens 174 Menschen haben zwischen
Mauerbau und Mauerfall ihren Fluchtbesuch über die Ostsee mit
dem Leben bezahlen müssen. Lediglich 913 Menschen erreichten
glücklich ihr Ziel in Dänemark, Schleswig–Holstein
oder gar in Schweden.
Angesichts der Repressionen, die Menschen in der DDR
erdulden mussten, angesichts der Gefahren, die Menschen auf sich
nahmen, um in Freiheit ihr Leben selbst bestimmen zu können,
angesichts des Leids von tausenden, die in den Gefängnissen
der DDR wegen ihres Freiheitswillens inhaftiert waren, und –
angesichts des sinnlosen Todes von insgesamt über
tausend Männern, Frauen und sogar Kindern, die auf der Ostsee
und an den anderen DDR–Grenzen starben, muss man fragen: Was
war das für ein Staat, dem seine Bürger davon
liefen?
Mit unserer Ausstellung versuchen wir, Antworten auf diese Frage zu
geben. Wir haben einige Schicksale von Ostseeflüchtlingen
dokumentiert, darunter sind die Geschichten gelungener wie auch
tragisch gescheiterter Fluchten. Wir erzählen, wie
Flüchtlinge versuchten, das Abschottungssystem an und auf der
Seegrenze zu überwinden, aber auch, was die Menschen dazu
trieb, ihre Heimat, ihre Familien und Freunde zu verlassen und
diese schwierige und lebensgefährliche Reise über die
Ostsee zu wagen. Lebensrealitäten in der DDR werden sichtbar,
vor denen die Menschen flohen: vielfältige Repressionen durch
die Stasi, Dogmatismus, geistige Enge, der Wunsch nach
Reisefreiheit – die Gründe waren unterschiedlich, doch
der starke Wunsch nach persönlicher Freiheit war allen
Flüchtlingen eigen.
Freiheit im allgemeinen Sinn und die Freiheit der Meere –
SED–Funktionäre vermieden diese Begriffe oder verdrehten
deren Sinn. In der DDR existierte die Freiheit des Meeres nicht,
war vielmehr reine Fiktion. Genau so wie die von der SED
verbreitete Propaganda, die den Anfang der 1960er Jahre gebauten
Überseehafen in Warnemünde als das Tor zur Welt
bezeichnete. Für die meisten DDR–Bürger blieb
dieses Tor fest verschlossen, bis sie es selbst am 9. November 1989
in der beispiellosen friedlichen Revolution öffneten. Sorgen
wir gemeinsam dafür, dass dieses Tor zur Welt auch in Zukunft
stets geöffnet bleibt.
Vielen Dank