Faszinierende Reportagen und einzigartige Beschreibungen finden wir in diesem Buch nicht nur über die Insel und ihre Menschen, sondern über die russische Kulturgeschichte und die postsowjetische Gegenwart insgesamt. Es verweist aber auch auf so manche selbstgerechte Wahrnehmung der Europäer und regt zum Nachdenken über Klischees und Vorurteile an.
Einfühlsam beschreibt der Autor Russland und seine Menschen. Im Mittelpunkt stehen jedoch immer wieder die Landschaft und die Bewohner der Inseln im Norden, eine besondere Stätte russischer Geschichte. Wilk versucht, Russland in seiner unsagbaren Vielfalt von Innen zu sehen und zu erklären, ohne dabei jedoch die eigenen Maßstäbe aufzugeben. Wurde und wird doch dieses Riesenreich heute gern in oberflächlichen Momentaufnahmen gezeichnet. Wilk meint: "Weder früher noch heute bemühten sich die Menschen des Westens, die russische Wirklichkeit von innen heraus zu begreifen, das heißt, Russland mit den Augen eines russischen Menschen zu sehen."
Bis heute wird tatsächlich Russland sehr oft aus der Sicht Europas betrachtet. Kritisch äußert er sich gegenüber allen Autoren, die aus zufälligen Begebenheiten allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. Auch der polnische Globetrotter und Reporter Ryszard Kapuczynski (seine Bücher wurden in viele Sprachen der Welt übersetzt) habe zum Beispiel in seinem Buch "Imperium" einen eher naiven Bericht über den Verfall der euroasiatischen Großmacht verfasst, weil er lediglich das erzähle, was man ihm vorgeführt habe.
"Schwarzes Eis" ist ein schönes Buch, in dem mit vielen Hintergrundinformationen sehr einfühlsam aus der komplizierten Geschichte des Landes Geschichten erzählt werden, die man am liebsten alle an einem Tage lesen möchte. Dem Autor gelingt es, durch seine bildhaften Darstellungen und präzisen Analysen die ideengeschichtlichen und politischen Zusammenhänge der komplizierten Prozesse zu erfassen, die sich in Russland abspielen. Er erzählt aber auch immer wieder von einem Ort, der zugleich Hölle und Paradies auf Erden ist, Solowki.
Bereits zu Zeiten Puschkins war er ein bekannter Verbannungsort. Doch dieser Ort ist weit mehr. Hier, so der Autor, "sieht man Russland, wie man das Meer in einem Wassertropfen sieht. Denn die Solowjezki - Inseln sind Essenz und zugleich Antizipation Russlands". Seit Jahrhunderten seien sie Mittelpunkt der Rechtsgläubigkeit und ein Zentrum russischer Staatlichkeit im Norden des Landes gewesen.
Hier wurde durch Jahrhunderte die Historie Rußlands geschrieben. Hier wurden nicht nur verurteilte Banditen angesiedelt, sondern auch der Wille Andersgläubiger und Andersdenkender gebrochen. Es ist, wie es scheint, ein besonderer Ort, wo vor Jahrhunderten eine große Klosteranlage entstanden war und wo sich theokratische Exzesse abspielten. Dieser Ort wurde dann zu einem berüchtigten Sträflingslager im zaristischen Russland, in dem, wie später im Gulag, menschliche Seelen Todesqualen erleiden mussten.
Nach der bolschewistischen Revolution wurden dann die Menschen auch noch in die Kirchen eingesperrt, und in den Klöstern wurden Pferde gehalten. Die Pelztiere, in großen Farmen gezüchtet, erhielten bessere Nahrung als die Häftlinge. Heute dient dieses einst grausame Lagersystem in den verwitterten Baracken hinter den Stacheldrähten nur noch als Ort der Erinnerung für den, der sich zu erinnern vermag.
Wir erfahren auch viel über das heutige Leben der Menschen, die es hierher verschlagen hat. Auch nach der Perestroika führen sie einen Kampf des Überlebens, schon nicht mehr hinter Stacheldraht, aber auf der neuen Bühne des so bunt anmutenden Konkurrenzkampfes. Dramatisch beschreibt der Autor die verschlungenen Menschenschicksale zwischen ihrer Verzweiflung und Hoffnung, in ihrem grauen oder anscheinend bunten Alltag des Augenblicks.
Der Alkohol macht die Menschen oft blind und taub oder verroht sie. Ohne Wodka gehe nichts. Zwar restauriere man die Klosteranlagen in Solowki, entferne den Schutt, zugleich werden aber die Gräber geöffnet und den Überresten der Schmuck und die Rosenkränze geraubt. Manches liest man mit Grauen: "In den Nächten feierten Touristen und die lokalen Schpana, minderjährige Huren und jugendliche Lumpen Orgien in den Kreuzgängen."
Fast demütig wird dagegen die russische Seele beschrieben, die so facettenreich ist, abscheulich, aber auch gut und anziehend. Beschrieben werden die Menschen in ihrem Alltag, bei ihrer Arbeit, ihren Sorgen und ihren Anstrengungen, das Leben erträglich zu gestalten. Wir erfahren, wie sie ihre Feste feiern mit den vielen Zeremonien und Bräuchen. Doch Wilk lädt uns auch zu zahllosen Spaziergängen ein, um die Geheimnisse einer märchenhaften Natur mit ihren Wäldern und Mooren zu erleben.
Er berichtet von den in lilarosa Farben glühenden Nächten direkt am Ufer des Weißen Meeres, von den optischen Täuschungen in der nordischen Landschaft, die mit ihren Spiegelungen oft schöner als die Wirklichkeit sind, von den Tücken des Weißen Meeres, das die Menschen ernährt, - sie sitzen in ihren Booten in der dunklen Nacht, sind hungrig und warten auf die Heringe, die oft die einzige Eiweißquelle sind. Wie in einer Fotografie entstehen vor uns Bilder, wenn der Autor versucht, die Wirklichkeit zu erfassen, sie zu begreifen, ihr Gestalt zu verleihen und sie in auserlesenen Worten abzudrucken.
Es ist ein Buch zum Lesen, zum Träumen und zum Reflektieren über ein großes Land, das nicht nur aus Gefängnissen besteht, ein Buch, aus dem man viel lernen kann, wenn man es ernsthaft möchte.
Mariusz Wilk
Schwarzes Eis. Mein Rußland.
Aus dem Polnischen von Martin Pollak.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003; 290 S., 21,50 Euro