Wie sich eine Gesellschaft verändert, zeigt sich auch daran, welche Gruppen sie als Minderheiten begreift und wie sie mit ihnen umgeht. Der Skandal um die vermeintliche Homosexualität des Viersternegenerals Günter Kießling etwa, der vor 20 Jahren die Republik erschütterte, entpuppt sich im Rückblick als peinliche Posse. Vor zwei Jahrzehnten sahen Bundeswehr und Geheimdienste in der "sexuellen Abnormalität" wegen der vermeintlichen Erpressbarkeit ein kaum zu kalkulierendes Sicherheitsrisiko. Inzwischen bezeichnen sich Regierungschefs von sich aus als schwul und beurteilen das selbstbewusst als "gut so". Wenige Wähler stören sich daran. Und der Untergang des Abendlandes ließ bisher auch noch auf sich warten.
Was später als einer der wenigen politischen Sex-Skandale der Bundesrepublik in die Geschichte eingehen wird, beginnt mit einer knappen Bekanntmachung des Verteidigungsministeriums. Am 4. Januar 1984 verkündet die Hardthöhe, dass der 59-jährige Kießling, seit April 1982 Stellvertreter des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa, bereits zum 31. Dezember des just beendeten Jahres in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden sei - ohne Angaben von Gründen. Dies war rein rechtlich möglich.
Bis dahin ist wenig über den gebürtigen Frankfurter, einer von drei deutschen Viersternegenerälen, bekannt gewesen. Angesichts der auffällig dezenten Ausmusterung blühen aber rasch die Spekulationen. Anfangs ist die Rede von Differenzen mit dem NATO-Oberkommandierenden, Bernard Rogers. Doch schon zwei Tage nach der Bekanntmachung des Ministeriums wird öffentlich geargwöhnt, der Junggeselle sei aufgrund des Verdachts der Homosexualität aus dem Verkehr gezogen worden. Stichhaltige Beweise für diese Unterstellung habe der Militärische Abschirmdienst (MAD) geliefert.
Der General selbst geht daraufhin zum Gegenangriff über: Kießling, der bereits ein Disziplinarverfahren gegen sich beantragt hat, um die Vorwürfe klären zu lassen, bestätigt in mehreren Interviews mit der Presse den offiziellen Grund seiner Entlassung. Zugleich gibt er sein Ehrenwort, nicht schwul zu sein. Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU) hält, unter Bezug auf die Informationen des MAD, dagegen. Jener habe "eindeutige" Nachweise vorgelegt, "Irrtum ausgeschlossen": Unter anderem sei Kießling von einem Besucher einer Schwulenkneipe in Köln identifiziert worden als der "Günter von der Bundeswehr", der sich häufig in dem Lokal aufhalte und auch Kontakt mit Strichern habe. Zudem wird Kießling vorgehalten, dass er die "eindeutigen" Vorwürfe bestreitet und sich rund 200 Tage im Jahr nicht an seinem Dienstort aufhielt - verdächtig, verdächtig.
Indes kommt in den ersten Januarwochen heraus, dass die MAD-Erkenntnisse regelrecht zusammengeschustert wurden: Der "Günter" entpuppt sich als "Jürgen", andere Zeugen als völlig unbrauchbar, teils sind die Ermittlungen in einer Manier durchgeführt worden, die an billige Fernsehkrimis erinnert. Und neben dem MAD steht nun auch der Verteidigungsminister am Pranger, über dessen Rücktritt spekuliert wird. Wörner bietet ihn später auch an, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) lehnt dies aber ab. Ein taktisch kluger Schachzug: In München bringt sich bereits Franz Josef Strauß als Nachfolger Wörners selber ins Gespräch. Kohl will aber eine Rückkehr des CSU-Vorsitzenden, der früher schon einmal Verteidigungsminster war, auf die bundespolitische Bühne unbedingt verhindern.
Um den General zu rehabilitieren beantragen ausgerechnet die nicht gerade als Freunde der Bundeswehr bekannten Grünen eine Aktuelle Stunde im Bundestag. Am gleichen Tag, dem 20. Januar, konstituiert sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss, um in 18 Sitzungen bis Anfang Juni die Affäre zu klären. Der Verteidigungsausschuss hat laut Grundgesetz auf dem Gebiet der Verteidigung die Rechte und die alleinige Zuständigkeit eines Untersuchungsausschusses. Im Verlauf der Sitzungen wird insbesondere die dubiose Arbeitsweise des MAD bloß gestellt.
Der Skandal endet schließlich damit, dass Wörner eine Ehrenerklärung abgibt zu Gunsten des Generals und jener wieder eingestellt wird - bis zu seiner ohnehin vorgesehenen Entlassung Ende März des gleichen Jahres. Im Gegensatz zum ersten, unrühmlichen Dienstende in Wörners Büro in zivil wird das zweite mit allen militärischen Ehren begangen: Kießling wird am 26. März 1984 mit einem Großen Zapfenstreich in den Ruhestand verabschiedet. Wörner wird 1988 NATO-Generalsekretär.