Bin ich noch ein Mensch?" Der Komponist Viktor Ullmann hat diese das Existenzrecht jedes Menschen berührende Frage musikalisch auf grausig verzerrte Weise im Tanzrhythmus der 30er-Jahre in seiner Oper "Der Kaiser von Atlantis" beantwortet. Es ist ein Werk, das er als jüdischer Häftling im KZ Theresienstadt 1944 kurz vor seiner Deportation zur Vergasung nach Auschwitz vollenden konnte. Das beschriebene Terzett geht über in den Ausruf "Ein lebender Toter". Sarkastischer konnte die Wirklichkeit hier nicht beschrieben werden.
Von den Nazis als Vorzeigeobjekt zur Täuschung der Weltöffentlichkeit über die Judenvernichtung installiert, gestattete man dort Internierten in geheuchelter Liberalität künstlerische Aktivitäten, die bis zur Gründung einer Operntruppe reichten. Ullmann hat in Theresienstadt fast die Hälfte seiner erhalten gebliebenen rund 50 Werke geschaffen. Hinter ihm lag bereits ein bewegtes Leben als anerkannter Komponist, Kapellmeister, Publizist und - in einer Schaffenskrise 1932 - als anthroposophischer Buchhändler mit den Stationen Wien, Prag, Aussig, Zürich, Stuttgart und wieder Prag bis zum Einmarsch der Nazis.
Die Biografie der Historikerin und Musikwissenschaftlerin Verena Naegele über Ullmann, der im Musikleben immer noch auf eine seinem künstlerischen Rang entsprechende Präsenz warten muss, ist angesichts des dürftigen und lückenhaften Materials über ihn eine Großtat. Sie hat mit Kompetenz, Zähigkeit, Fleiß, gutem Kombinationsvermögen und spürbarer Liebe zur gestellten Aufgabe eine Lücke geschlossen und zugleich einen wichtigen Beitrag zur größeren Verbreitung von Ullmanns Werk geliefert.
Nicht nur aus Gründen fehlender Belege über das Leben des Komponisten und wegen des Verlustes etwa der Hälfte seiner Werke war es sinnvoll, das zeitgeschichtliche und kulturhistorische Umfeld seiner Generation näher zu beleuchten. Dadurch wird auf Anhieb klar, dass der 1898 in der zum deutsch-polnisch-tschechischen Einzugsbereich gehörenden Stadt Teschen in die schon wankende österreichische k.-u.-k.-Monarchie Hineingeborene, der sich mit 18 Jahren als Kriegsfreiwilliger meldet und traumatisiert aus den Isonzo-Schlachten zurückkehrt, das Kind einer Zeit voller Brüche ist. Die Autorin vermutet darin den wesentlichen Grund für die Hinwendung des katholisch Erzogenen zur Anthroposophie.
So wird auch nachvollziehbar, dass Ullmann wohl wegen seines dadurch ganzheitlich geprägten Weltbildes nie mit seinem Werk darauf aus war, mit dem Überkommenen radikal zu brechen oder Kunst als politische Waffe zu benutzen wie zum Beispiel sein ehemaliger Mitschüler Hanns Eisler. Und es erklärt sich auch, weshalb er nach dem Ersten Weltkrieg nur kurze Zeit dem Kreis um Schönberg angehörte, obwohl er aus dieser Gruppe zu Alban Berg stets in verehrungsvollem Kontakt stand.
Der intensive Blick auf die zeitgenössische Musikszene ist ein Gewinn, weil so die Bedeutung Ullmanns im Gesamtzusammenhang erkennbar wird. Neben seinem tragischen Schicksal, in dem die Kunst Lebenswillle war, vermittelt das Buch anschaulich, welch überwältigender Stilpluralismus sich hinter der sogenannten Neuen Musik verbirgt.
In einer künftigen Ausgabe sollte eine Reihe unnötiger Wiederholungen ausgemerzt werden; als richtige Uraufführungsstätte des "Wozzeck" von Alban Berg wäre dann auch die Staatsoper Berlin zu nennen (die Deutsche Oper gab es damals noch nicht). Interessant dürfte sein, dass aus dem mehrfach erwähnten Hans Wilhelm Steinberg der berühmte Dirigent William Steinberg wurde. Schließlich wäre eine Diskografie im Anhang nützlich und der Verbreitung von Ullmanns Werk dienlich.
Verena Naegele
Viktor Ullmann. Komponieren in verlorener Zeit.
Dittrich Verlag, Köln 2002; 496 S., 28,- Euro