Die EU-Aufnahme religiös oder zivilisatorisch überwiegend "westlich" geprägter Staaten droht eine neue, geistesgeschichtlich beunruhigende Trennlinie entlang der Ostgrenze der neuen Beitrittsländer entstehen zu lassen, eine Konfrontation des westlichen Europa mit dem führenden Land der Orthodoxie, wie dies Samuel Huntington in seinem "Kampf der Kulturen" plakativ dargelegt hat.
Russland als geopolitischer Sonderfall, als gewaltiges Land mit geistlich-orthodoxen, autokratisch-nichtdemokratischen Traditionen, begegnete immer wieder west- und mitteleuropäischem Misstrauen. Weder wäre Russland auf absehbare Zeit mit der Schwäche seiner staatlichen Institutionen, Vernachlässigung der Menschenrechte, Unterdrückung von Minderheiten, wie in Tschetschenien, politisch auf die Konditionalität einer EU-Mitgliedschaft vorbereitet. Noch scheint das Land wirtschaftlich und finanziell trotz mancher Fortschritte derzeit in der Lage, durch Modernisierung und Liberalisierung seine Probleme beim Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft kurz- oder mittelfristig eigenständig so zu lösen, dass seine Wirtschaft dem Druck marktwirtschaftlichen Wettbewerbs standhalten könnte.
Seine gegenwärtige innen- und wirtschaftspolitische Situation macht die Unmöglichkeit deutlich, politisch oder wirtschaftlich die "Kopenhagener Kriterien" und damit die Konditionen für eine Mitgliedschaft - die ohnehin größenmäßig die EU auseinandersprengen würde - oder auch nur Assoziierung erfüllen zu können. Ihrerseits wäre die EU im hypothetischen Falle eines EU-Beitritts Russlands finanziell, wirtschaftlich und auch institutionell mit einem Versuch einer Lösung der russischen staatlich-institutionellen, politischen, rechtlichen, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Finanzprobleme völlig überfordert.
Die raison d`etre der EU, als Gemeinschaft demokratischer, gleichberechtigter europäischer Staaten, wäre angesichts des Übergewichts des russischen Bären hinfällig. Sie ist bereits durch einen möglichen Beitritt der Türkei bedroht. Kommissionspräsident Prodi hat hierzu im Mai 2002 in Moskau zu Recht erklärt, Russland sei ein "wesentlicher Teil" Europas, doch würde sein Beitritt die "Natur der EU selbst" verändern. Für eine engere Verbindung Russlands mit der EU müssen daher andere prozedurale Wege als ein EU-Beitritt gefunden werden, sollten die bisherigen vertraglichen Vereinbarungen nicht ausreichen. Es ist in der EU allerdings unstrittig, dass Russland kulturell-zivilisatorisch zu Gesamteuropa gehört. Seine großen Schriftsteller sind unveräußerlicher Bestandteil europäischen Kulturerbes.
Eine engere Bindung Russlands an dieses Europa reicht daher weiter als seine wirtschaftlich-politische Anbindung an die EU. Sie ist auch ein kulturell-zivilisatorisches Vorhaben. Russland ist wirtschaftlich der EU eng verbunden. Die EU ist heute Russlands größter Handelspartner mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent am russischen Außenhandel.
Dieser Anteil würde im Volumen mit der EU-Osterweiterung, also unter Einbeziehung etwa des polnisch-russischen Handels auf mehr als 50 Prozent wachsen. 52 Prozent der Direktinvestitionen in Russland stammen derzeit aus der EU. Diese enge Verzahnung Russlands mit der EU und ihren neuen Mitgliedstaaten macht deutlich, dass das künftige Europa der 27 eine Strategie finden muss, die eine Isolierung Russlands als Folge der Osterweiterung vermeidet.
Eine solche Isolierung würde zwangsläufig dann eintreten, wenn Russland von den wirtschaftlichen Impulsen und damit der immer stärker werdenden Attraktivität der Osterweiterung ausgeschlossen bliebe. Bereits durch die "Europaabkommen" vorbereitet, wird sich der Adaptionsprozess der neuen EU-Mitglieder an die Rechtsnormen der EU rasch vollziehen, ihre Bindung an die alten 15 Mitgliedstaaten und an die EU selbst festigen.
Russland wäre von der mit diesem Modernisierungs- und Transformationsprozess verbundenen wirtschaftlichen Dynamik abgeschnitten und auch in seinem traditionellen Handelsaustausch beeinträchtigt. Hinzu kommt die Drohung des Schengen-Regimes mit seiner Forderung nach strikter Kontrolle und Abschirmung der künftigen EU-Ostgrenze, worauf Putin beim Petersburger EU-Russland-Gipfel dezidiert mit der Bemerkung hinwies, niemand wolle, dass aus der "Schengener Wand" eine "Berliner Mauer" werde und Visafreiheit ab 2007 verlangte.
Ungeachtet einer Reihe seit 1989 zwischen der EU und Russland zustande gekommener politischer Erklärungen und wirtschaftlicher Vereinbarungen, die eine Einbeziehung Russlands in die europäische Wertegemeinschaft sowie eine engere wirtschaftliche und handelspolitische Kooperation zum Gegenstand hatten, ist bisher eine klare Perspektive für eine konstruktive Weiterentwicklung der Beziehungen schwer zu erkennen.
Daran haben auch die in ihrer Substanz eher mageren Abschlußssdeklarationen der EU-Russland-Gipfel von Petersburg (Mai 2003) und Rom (November 2003) wenig geändert. So sprach etwa das Petersburger Abschlussdokument das Problem einer Isolierung Russlands durch die Osterweiterung lediglich mit der Absichtserklärung an, man wolle "ein neues Europa ohne Trennlinien" aufbauen. Eine Aufwertung des durch Artikel 90 des Abkommens über Partnerschaft und Kooperation (PKA) von 1994 eingesetzten Kooperationsrats zu einem "Ständigen Partnerschaftsrat" war kaum mehr als ein optisches Entgegenkommen gegenüber diesbezüglichen russischen Wünschen. Auch scheint seine Implementierung derzeit ausgesetzt.
Meinungsunterschiede gibt es offenbar in der Frage der WTO-Fähigkeit Russlands und entsprechenden russischen Wünschen sowie zu Modalitäten der Ausdehnung des PKA auf die neuen EU-Staaten. Das bereits 1997 in Kraft getretene PKA stellte zweifellos einen wichtigen Annäherungsschritt der EU dar, um mittels verbesserter Handels- und kooperativer Wirtschaftsbeziehungen Russland durch einen Transformationsprozess die schrittweise Anpassung an den europäischen Binnenmarkt zu erleichtern. Von den im PKA vorgesehenen partnerschaftlichen Zielsetzungen zur Entwicklung enger Beziehungen blieb der im Kooperationsrat institutionalisierte politische Dialog jedoch im Grunde ohne substanzielle Ergebnisse, wie an der Tschetschenien-Frage deutlich wurde, wo europäische Proteste auf russische Intransigenz stießen.
Lediglich in der strittigen Einzelfrage der Transitvisen für Kaliningrad konnte eine Lösung erreicht werden (kein Transitvisum, sondern litauisches Reisedokument). Bei wichtigen wirtschaftspolitischen Themen wie Transformation und Investitionen kam es zu keiner echten Annäherung. Das im PKA (Artikel 3) genannte Ziel einer Freihandelszone zwischen den Vertragsparteien blieb angesichts der schwierigen Reformlage in Russland problematisch. Im Vorfeld des Petersburger EU-Russland-Gipfels hatte die Kommission am 11. März 2003 Vorschläge für Nachbarschaft in einem größeren Europa vorgelegt, mit denen "ein neuer Rahmen für die Beziehungen der EU zu ihren östlichen und südlichen Nachbarn" geschaffen werden soll.
Der Kommission ging es bei ihren Vorschlägen um zukünftige Nachbarstaaten, "die derzeit kein Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU haben". In Osteuropa sind diese "neue Nachbarn" Russland und die drei anderen westlichen GUS-Staaten (Belarus, Ukraine, Moldawien). Ihnen wird eine intensivierte Zusammenarbeit und Unterstützung in Aussicht gestellt ,um einen "Ring von Freunden" an den künftigen östlichen Außengrenzen der EU zu schaffen und neue Trennungslinien in Europa zu vermeiden.
Zu diesem Zweck soll Russland und den drei anderen westlichen GUS-Staaten "die Teilnahme am Binnenmarkt der EU und weitere Integration und Liberalisierung zur Förderung der Freizügigkeit und des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs" angeboten werden. Mit dieser "neuen Vision" eines EWRartigen offenen und integrierten Markts würde Russland - laut Interpretation von Kommissionspräsident Prodi - so eng der EU angenähert, wie dies ohne EU-Mitgliedschaft möglich wäre.
Damit wird die Absicht der Kommission erkennbar, Russland und andere GUS-Staaten als Kooperationspartner wirtschaftlich und politisch an die EU zu binden, ohne wie etwa in Südosteuropa ihnen hierfür die spätere EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Als nächster Schritt ist hierfür seitens der EU ein individueller "Aktionsplan" für Russland mit konkreten Maßnahmen für eine differenzierte Zusammenarbeit in einer Reihe von Bereichen vorgesehen.
Voraussetzung für den mit diesem Konzept anvisierten Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum der vier Binnenmarktfreiheiten bleibt für die EU jedoch der nachgewiesene konkrete Fortschritt bei der "Verwirklichung der gemeinsamen Werte" (auch der Menschenrechte) und bei der effektiven Umsetzung politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Reformen. Zudem sieht die Kommission diese neue Nachbarschaftspolitik als ergänzenden Anschluss an die bestehende strategische Partnerschaft mit Russland, deren Grundlage das PKA bildet.
Die volle Implementierung des bisher nicht hinreichend umgesetzten PKA, insbesondere die Angleichung der Rechtsregeln, bleibt für die Kommission Vorbedingung für die von ihr längerfristig angebotene EWRähnliche neue politische und wirtschaftliche Konstruktion neuer Partnerschaft, die Russland eine Art Kompensation zu der Osterweiterung bieten soll. Für die notwendige Transformation der russischen Volkswirtschaft besteht die Kommission zu Recht auf strikter Umsetzung und voller Anwendung des PKA.
Ob das noch eher vage Konzept eines EWR-ähnlichen Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums als weitere Zielsetzung angesichts der bisher unzureichenden Implementierung des PKA durch die russische Politik und Administration in der Folge auch realisiert werden kann, scheint indessen fraglich. Es geht schließlich darum, die russische, noch mit sowjetischen planwirtschaftlichen Relikten und rechtsstaatlichen Schwächen behaftete Wirtschaft auf den fortgeschrittenen Integrationsraum der EU einschließlich der Freiheiten des Binnenmarkts auszurichten; eine Konvergenz von Vorschriften und Gesetzen in Schlüsselbereichen zu erreichen und schließlich, für die europäische Industrie besonders wichtig, im Vorgriff auf den bisher nicht erreichten WTO-Beitritt Russlands um die Beseitigung von Hindernissen für Handel und Investitionen.
Angesichts der immensen rechtlichen und praktischen Probleme,die sich hieraus für Russland ergeben, werden echte Fortschritte wohl nur langfristig zu erreichen sein. Die Vision eines Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums mit Russland ist daher wenig realistisch. Gegenwärtig dürfte dieses hochgesteckte Ziel mehr als ein politisches Signal der EU für ein größeres Europa denn als taugliches wirtschaftspolitisches Integrationsinstrument zu bewerten sein. Damit verbleibt für eine kurz- und mittelfristige Intensivierung der wirtschaftlichen, aber auch politischen Beziehungen zu Russland für die EU eine möglichst konditionierte Zug-um-Zug-Politik im Rahmen des PKA als institutionellem Hebel.
Auch sind andere Möglichkeiten der Kooperation nicht immer hinreichend ausgeschöpft worden. So zeigt der sich seit sechs Jahren hinziehende "Energiedialog", der das für die EU wichtigste Element der wirtschaftlichen Kooperation mit Russland zum Gegenstand hat, wegen konträrer Positionen keine nennenswerte Fortschritte, wenn sich auch einzelne europäische Großunternehmen wie BP, Royal Dutch und Ruhrgas an russischen Erdöl- und Erdgasunternehmen beteiligen konnten. Allerdings dürfte sich die offensichtlich aus politischen Gründen erfolgte willkürliche Verhaftung des international bekannten russischen Erdölgroßindustriellen Chodorkowkij zukünftig eher negativ auf die Investitionsbereitschaft europäischer Energieunternehmen in Russland auswirken.
Auch wurde die Europäische Energiecharta von Rußland bisher nicht ratifiziert, obwohl die EU 53 Prozent des Erdölexports Russlands und 62 Prozent seiner Erdgasexporte aufnimmt und damit Hauptabnehmer des russischen Energieexports ist. Russland strebt eine energiepolitische Interdependenz an, um sich den Absatzmarkt EU möglichst weitgehend zu sichern, während die EU, um Abhängigkeiten zu vermeiden, am Prinzip einer diversifizierten Energieversorgung festhält.
Die derzeitige Stagnation in den Beziehungen zwischen der EU und Russland lässt erkennen, daß seit Mitte der 90er-Jahre relativ wenig geschehen ist, um die wiederholt postulierte Absicht, in Europa keine neuen Trennungslinien entstehen zu lassen, in der Praxis auch zu verwirklichen.
Mit der Anerkennung Russlands als "funktionierende Marktwirtschaft" durch Kommissionspräsident Prodi im Mai 2002 und der neuen EU-Nachbarschaftspolitik vom März 2003 wurden von der Kommission zwar positive Impulse für eine engere marktwirtschaftliche Zusammenarbeit gegeben. Russland müsste hierfür jedoch die seit langem überfälligen Änderungen seiner Rechtsordnung und grundlegende Strukturreformen vornehmen. Der von Putin verkündete innere Wandel zu Demokratie und Marktwirtschaft wäre andernfalls weder glaubhaft noch praktikabel. Ohnehin hat das Ergebnis der Duma-Wahl vom Dezember 2003 zur Schwächung der marktwirtschaftlich orientierten politischen Kräfte und damit der von diesen unterstützten Strukturreformen beigetragen.
Auch scheint die von Russland initiierte Gründung eines "Einheitlichen Wirtschaftsraums" der vier GUS-Staaten Russland, Ukraine, Kasachstan und Belarus am 18. September 2003 in Jalta, der faktisch auf die Bildung einer Art Zollunion hinauslaufen könnte, neuerdings ein Hindernis für eine zukünftig mehr marktwirtschaftlich ausgestaltete Kooperation mit der Europäischen Union aufzurichten und eine Rückkehr zu früheren postsowjetischen Integrationsversuchen anzuzeigen.
Russland sollte jedoch verstehen, dass nur durch Brückenschlag zur Rechts- und Wirtschaftsordnung der EU dem Aufreißen einer sich negativ auswirkenden Trennlinie zwischen den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedern und Russland vorgebeugt werden kann. Letztlich müssen in den Beziehungen angesichts der Osterweiterung beide Seiten substantieller, flexibler und damit aktiver werden, um Russland den ihm angemessenen wichtigen Platz in einem durch die EU-Osterweiterung neugestalteten Europa finden zu lassen.