Mit "verordneten" Identitäten ist es so eine Sache. Erst recht, wenn es sich um ergänzende handelt, wie im Fall der so genannten Unionsbürgerschaft. Unionsbürger ist, so sagt es der Maastrichter Vertrag über die Europäische Union von 1992, wer die Staatsbürgerschaft eines der Mitgliedsländer besitzt. Die Formulierung von allgemeinen Grundrechten und deren Präzisierung im Begriff der Unionsbürgerschaft erweiterte die Vorstellungen einer Europäischen Gemeinschaft erheblich. Der ursprünglichen Idee eines gemeinsamen, stabilen Wirtschaftsmarktes wurde die Idee eines "Europas der Bürger", einer europäischen Identität entgegengesetzt.
Mit der Geburt der Unionsbürgerschaft 1992 wurden neue, europa-spezifische Rechte definiert: Sie verlieh jedem Unionsbürger das persönliche Grundrecht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, und dies ohne Bezugnahme auf eine Wirtschaftstätigkeit. Sie gewährte ferner diplomatischen und konsularischen Schutz durch die Behörden eines jeden Mitgliedstaats, wenn das Land, dessen Angehöriger man ist, in dem betreffenden Land nicht vertreten ist. Mit ihr verband sich darüber hinaus ein Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und das Recht, sich an den europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden (als Ergänzung im Amsterdamer Vertrag 1997 enthalten). Vor allem aber hatten Unionsbürger nun das Recht, im Land ihres Wohnsitzes an Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Die erste Chance dafür bot sich am 12. Juni 1994, als in der Bundesrepublik zum vierten Mal seit 1979 eine Direktwahl zum Europaparlament stattfand.
Am 4. Februar 1994 hatte der Bundestag einer Änderung des Europawahlgesetzes für Deutschland zugestimmt, das dann am 13. März in Kraft trat. Neben den deutschen Staatsbürgern waren nun auch 1,3 Millionen EU-Ausländer, sofern sie bereits drei Monate in der Bundesrepublik lebten, an die Urnen gerufen. Nicht nur für die Neu-Wähler, auch für die deutschen und ausländischen Behörden bedeutete dies im Vorfeld einen formalen Hürdenlauf. Denn die Wahlberechtigten waren nicht automatisch in den entsprechenden Wählerregistern gelistet. Dies musste bis spätestens zum 9. Mai beantragt werden. Danach wurden, da die Wahlberechtigung nur für ein Land galt, die Behörden in Frankreich oder Spanien informiert, um die Betreffenden aus den dortigen Wahlregistern zu streichen. Letztendlich meldeten sich nur 6,6 Prozent der in Deutschland wohnenden Bürger anderer EU-Staaten zur Wahl an.
Verantwortlich dafür war nicht in erster Linie die knapp bemessene Zeit zwischen Verabschiedung und erster Anwendung des Gesetzes, wie manche Berichterstatter vermuteten. Denn auch bei der Europawahl 1999 ließen sich nur 2,1 Prozent der wahlberechtigten EU-Bürger in die Register eintragen. Dass eine europäische Identität und ein Bewusstsein für Gestaltungsmöglichkeiten im europäischen Rahmen nicht allein durch Vertragswerke entsteht, sondern sich durch Alltagserfahrungen erst allmählich entwickelt, wurde schon im Zusammenhang der Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht deutlich. Die Euphorie der Europa-Befürworter, allen voran Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und der französische Staatspräsident Francois Mitterand, stieß unter der Bevölkerung vieler Länder auf Ängste, Skepsis und offene Ablehnung. In Dänemark lehnte eine Mehrheit den Maastrichter Vertrag 1992 in einem Volksentscheid ab; die norwegische Bevölkerung sprach sich 1994 gegen einen Beitritt des Landes zur EU aus.
In der Bundesrepublik sorgte vor allem der Beschluss zur Einführung des Euro für Unruhe. Während Helmut Kohl den europäischen Einigungsprozesses zur "Schicksalfrage für die Deutschen" machte und seine Bedeutung für die Bundesrepublik als ein Land mit sehr vielen Nachbarn hervorhob, deklassierte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) die EU als "Rindfleischgesellschaft" und äußerte Angst vor einem "Herabsinken Bayerns zu einer europäischen Provinz". Er verlangte einen radikalen Kurswechsel in Sachen Europapolitik und meinte damit eine Verlangsamung des Integrationsprozesses. Doch dafür war es längst zu spät.
"Europa", zunächst von vielen als ökonomisch-technokratisches Gebilde betrachtet, das mit der eigenen Lebenswirklichkeit nicht viel zu tun habe, wurde im Verlauf eines Jahrzehnts zu einem wichtigen Bezugsrahmen für seine Bewohner: Angefangen vom einheitlichen EU-Führerschein bis hin zu dem Bewusstsein, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden zu können, wie im Falle der jüngsten Bodenreformurteile geschehen.