Letztes Jahr habe ich mir meinen größten Wunsch erfüllt und mir Flügel auf den Rücken tätowieren lassen", erzählt die 20-jährige Lina. "Von den Schultern bis zur Taille reichen die. Sie wachsen sozusagen aus meinen Schulterblättern, und die unteren Federspitzen liegen gefaltet übereinander. Zum Abflug bereit. Jetzt nennen mich viele in der Stadt nur noch die Flügelfrau." Lina kam aus Taiwan nach Aachen, wo ihre Eltern ein chinesisches Restaurant betreiben. Sie hatte es schwer in Deutschland - Sprachprobleme, ein stilles Naturell, ein fremdes Gesicht. Die Probleme häuften sich, die andere Kultur, die Pubertät, dazu noch lesbisch - um das alles auszuhalten, kann man Flügel gut gebrauchen.
Linas Erzählung ist eine von vielen. Die Reporterin und Radio-Moderatorin Katrin Panier hat die Erfahrungen und Gefühle, Sehnsüchte und Ängste jugendlicher Ausländer in Deutschland nicht nur dokumentiert, sondern nahe an den Leser herangeholt. Ein Welttreffen der Jugend findet statt in diesem Buch, das gesammelte Erfahrungen aus den elementaren Bereichen junger Existenz vorstellt: Erwachsenwerden, Arbeit, Sex, Liebe, Zukunft, das alles unter den Bedingungen des Daseins als Fremde oder Andere in einer Gesellschaft, die die Toleranz auch erst trainiert.
Die Autorin hat es verstanden, diese hoffnungsvollen Wesen zum Reden zu bringen, so offen, als wäre sie ihnen Freundin und Beichtvater zugleich. Das Resultat sind sehr persönliche, sehr eigenwillige Aussagen über das Eigene und das Fremde. Über die manchmal verzweifelte Suche nach Identität in einer Umgebung, deren Sprache, Moral und Humor man verstehen lernen muss, um die vermeintliche oder auch wirkliche Kälte überstehen und Vorurteile überspringen zu können.
Die Autorin hat nicht die Ausländerfeindlichkeit zum Zentrum gemacht, sondern das alltägliche Leben in einem Land, in dem Ausländerfeindlichkeit eines der Probleme ist, mit dem die jungen Fremden zu kämpfen haben. Deutschland - das Land der Großzügigkeit und der Kleinkrämerei, der Aufklärung und der Verklemmtheit. Wo die Frauen gleichberechtigt sein dürfen und die Jungs ihre Mädchen abends nicht nach Hause bringen. Wo man lesbisch oder schwul sein darf, aber Paare im Restaurant getrennt zahlen.
Man erfährt in diesem Buch genauso viel über das Eigene wie über das Fremde. Über türkische Mädchen, die selbstverständlich bis zu ihrer Hochzeit Jungfrau bleiben und erst zu Hause ausziehen dürfen, wenn sie heiraten. Über einen homosexuellen Mexikaner, der sauglücklich wäre in Berlin, wenn ihn nicht "die mexikanischen Gespenster", die Schatten der moralischen Enge seiner Heimat, verfolgten. Über eine junge Russin, die gleichberechtigt sein will, aber auch geborgen, die sich an ihren Mann anlehnen möchte "wie an einen Baum" und sich letztendlich mit russischen Jungs wohler fühlt als mit deutschen, obwohl die auch "süß" sind.
Schön ist, dass die Autorin mit gängigen Klischees furchtlos umgeht. "Frauen sind ja sehr an mir interessiert", prahlt der 16-jährige Johnny, Sohn einer Deutschen und eines Angolaners. "Ich weiß auch, was so getuschelt wird. Das, was meist über Dunkelhäutige kommt, ist: Die haben große Schwänze und können gut tanzen. Ich sag dazu: Ja, es stimmt. Die meisten können gut tanzen und haben auch große Schwänze."
Katrin Panier hat wunderbar direkte Gepräche geführt. Mit der Professionalität einer geübten Redakteurin hat sie die Redundanzen eliminiert und die Abfolgen montiert. Es sind authentische Erzählungen, unterhaltsam und spannend - Dokumente einer sich fröhlich und risikoreich vermischenden Welt: Zu Hause ist, wo ich verliebt bin.
Katrin Panier
Zu Hause ist, wo ich verliebt bin.
Ausländische Jugendliche in Deutschland erzählen.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2004;
400 S., 9,90 Euro
Jutta Voigt arbeitet als "Zeit"-Kolumnistin in Berlin.