Jassir Arafat weiß, was sich gehört. Zumindest dann, wenn es um die Etikette geht. Jedes mal, wenn er den einstigen israelischen Außenminister und späteren Ministerpräsidenten Shimon Peres vor der Tür eines Festsaals oder Salons antraf, forderte er ihn demütig auf Französisch auf: "Nach Dir, nach Ihnen, bitte...". Und stets erwiderte Peres: "Aber nein, nein, Monsieur Arafat, nach Ihnen!". Doch der Palästinenserführer ließ nicht locker. Jeder Tür ging so ein nicht enden wollendes Ritual voraus.
Shimon Peres erzählt diese kleine Anekdote in seinen jetzt bei Siedler schienenen Erinnerungen. Vermutlich wäre sie eine Bagatelle, wäre sie nicht eine tragische Metapher. Da stehen die ranghöchsten Vertreter der entzweiten Völker vor entscheidenden Schwellen, und keiner möchte der sein, der sie als erster überschreitet. Was im Fall des Festsaals noch als Höflichkeit gedeutet werden mag, das geschieht an der Tür zum Frieden aus Misstrauen und Angst.
Der 1923 in Polen geborene Peres hat seine politische Karriere immer wieder dafür eingesetzt, diesen Gordischen Knoten im Nahen Ostens zu zerschlagen. 1994 erhielt er dafür zusammen mit Jizchak Rabin und Jassir Arafat den Friedensnobelpreis. Doch Auszeichnungen, Preise und Anerkennungen schaffen noch lange keine Aussöhnung. Keinem dürfte dieses so schmerzlich bewusst sein, wie dem heutigen Alterspräsidenten der Knesset.
Die politische Karriere von Shimon Peres begann bereits 1948 unter dem israelischen Staatsgründer Ben Gurion. Er hat sich nie einer Illusion hingegeben. Politik war für Ihn stets eine Mischung aus Pragmatismus und Ungeduld. Hierin haben vermutlich auch viele der Differenzen ihren Ursprung, die er als Mitglied der Arbeitspartei mit dem Likud-Ministerpräsidenten Scharon hat. Dessen Politik des Zögerns und Zauderns hatte er schon früh mit den quasi prophetischen Worten quittiert: "Der Unterschied zwischen einem Diplomaten und dem Messias sei das Timing."
So gesehen ist Peres in seiner langen politischen Laufbahn oftmals dort vorgeprescht, wo sich andere noch in unhaltbaren Stellungen verschanzt hatten. Schon bevor er zusammen mit Rabin das Abkommen von Oslo zu Wege brachte, ist er Israels diplomatischer Unterhändler in Ägypten, Jordanien und auch in der Bundesrepublik gewesen. Besonders sein Treffen mit dem damaligen deutschen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß stieß in dem noch jungen Staat Israel auf nur wenig Verständnis.
Die Memoiren sind reich gefüllt mit solch historischen Interludien. Hier öffnet einer der bedeutendsten Politiker des modernen Israels ein Füllhorn von Erinnerungen, Visionen und Einsichten. Nicht immer geht es dabei so hintersinnig zu wie im geschilderten Erlebnis mit Arafat, und nicht immer mag man die Einschätzungen von Peres unwidersprochen hinnehmen.
Manchmal liest sich dieses politische Vermächtnis wie ein Stapel Karteikarten, auf denen ein ältlicher Herr fein säuberlich seine Aphorismen hinterlassen hat. Immer dort aber, wo Peres von der Weisheit zur Erzählung findet, breitet sich die israelische Chronik als eine spannende Anekdotensammlung von den Taten und Unterlassenschaften großer Männer aus.
Für einen Geschichtsschreiber stand Shimon Peres sicherlich stets zu nahe an den historischen Ereignissen. Ein Geschichtenschreiber aber ist er unbestritten. An den entscheidenden Stellen jedoch, an denen auch die Wissenschaft bis dato nur spekulieren konnte, hätte man sich von den Schilderungen eines Insider doch mehr erhofft. Doch Peres schweigt sich aus. Und so bleibt der Ablauf der Verhandlungen von Oslo ebenso im Dunkeln wie etwa der Ausstieg aus der "Koalition der Nationalen Einheit".
"Ich bin zu der Erkenntnis gekommen", so formuliert Peres sein politisches Credo, "dass Kreativität wichtiger ist als Erinnerung". Für die Bewältigung des israelisch-palästinensischen Konfliktes mag das zutreffen. Einem Staatsmann jedoch wie Peres mag man dises dezente Understatement nicht abnehmen. An sein politisches Lebenswerk wird man sich erinnern wie an das von Jizchak Rabin. In der jüdischen Kultur, in der das Pessachfest noch in jeden Jahr mit den Worten "Nächstes Jahr in Jerusalem!" begangen wird, weiß man nur zu gut, wie wichtig die Erinnerung für eine positivere Zukunft sein kann.
Shimon Peres
Eine Zeit des Krieges, eine Zeit des Friedens.
Erinnerungen und Gedanken.
Siedler Verlag, Berlin 2004; 210 S., 18,- Euro
Der Autor ist freier Journalist in Berlin.