Gewalt, Krieg und Massenmord bleibt ein Thema - auch im 21. Jahrhundert. Nur haben sich die vorrangigen Konfliktlinien von der zwischenstaatlichen Ebene noch deutlicher in die Staaten selbst hinein verlagert. Auch der an der Stanford-University lehrende Historiker Norman M. Naimark sieht keinen Grund für Optimismus: Wenn die internationale Gemeinschaft in Zukunft nicht sehr viel schneller und entschlossener als bisher handele, werden sich die haarsträubenden Schrecken der "ethnischen Säuberungen" mit Sicherheit wiederholen.
Deren vergleichende Geschichte in Europa während des 20. Jahrhunderts ist das Thema seines Buches. Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen "ethnischer Säuberung" und Völkermord: Der letztgenannte sei als vorsätzliche, ausnahmslose Ermordung einer ganzen ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe oder eines ganzen Volkes zu verstehen. Ziel einer "ethnischen Säuberung" sei es hingegen, "die ?fremde' Nationalität, ethnische oder religiöse Gruppe loszuwerden und das Territorium zu übernehmen, das sie früher bewohnte".
Naimark gibt zu, dass die Grenzen in der Realität oft fließend sind: auch "ethnische Säuberungen" haben häufig, zumindest phasenweise, das Erscheinungsbild und die Wirkung eines Völkermordes. Dennoch sei es wichtig, den entscheidenden Unterschied, den erklärten Vorsatz der ebenso ausnahme- wie restlosen Ermordung, deutlich herauszustreichen.
Die Ursachen der Völkermorde und der ethnischen Säuberungen sieht Naimark in den zu Ende des 19. Jahrhundert an Stoßkraft gewinnenden Ideen des integralen Nationalismus, deren Vermischung mit dem Imperialismus, dem Zwang des modernen Staates, "politische Maßnahmen durchzusetzen und Probleme end-gültig zu lösen" sowie der technischen Fähigkeiten dazu. Zudem habe die Erfahrung des Ersten Weltkrieges das "industrielle Töten" im Bewusstsein der Zeitgenossen geradezu zur "perfektionierten Routine" werden lassen.
Entlang seiner definitorischen Unterscheidung zwischen Völkermord und "ethnischer Säuberung" untersucht Naimark das Schicksal der Armenier und der anatolischen Griechen, die Judenverfolgung im Dritten Reich, die sowjetischen Deportationen der Tschetschenen-Inguschen und der Krimtartaren, die Vertreibung der Deutschen aus Polen und aus der Tschechoslowakei und schließlich die Kriege im ehemaligen Jugoslawien auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Auch wenn Naimark betont, es gebe "eine klare und offensichtliche Verbindung zwischen dem Aufstieg der Nazis zur Macht und ihrer Beherrschung des Kontinents und andererseits dem Aufstieg Stalins und des Stalinismus in der Sowjetunion", sticht der Massenmord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges für ihn doch klar heraus. Entscheidend hierfür sei letztlich die Intensität der von Anfang an klar ihre eliminatorische Zielsetzung verfechtenden nationalsozialistischen Rassenideologie. Sie sei das gleichsam Spezificum hinter dem Holocaust.
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien wiederum seien ursächlich viel enger mit der deutschen Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkrieges und dem sowjetischen Einfluss nach 1945 in dieser Region verbunden, als mit einem von den Medien oft kolportierten angeblich "jahrhundertealten" unauslöschlichen Hass zwischen den verschiedenen Ethnien. Dafür gebe es keinerlei Anhaltspunkte.
Besonders anregend sind die von Naimark zum Schluss formulierten typologischen Gemeinsamkeiten der von ihm durchleuchteten ethnischen Säuberungen. Sie sind stets durch Gewalt gekennzeichnet, finden oft in Kriegszeiten, zumal in Übergangszeiten vom Krieg zum Frieden hin statt, sind in ihren Zielsetzungen total, versuchen die Geschichte vollständig umzuschreiben, richten sich auch gegen das Eigentum der von ihnen Betroffenen und sind oft von einer besonders barbarischen Grausamkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht geprägt.
Alles in allem hat Naimark ein ebenso erschütterndes wie erhellendes Buch vorgelegt, das eindringlich vor allzu großer Selbstgewissheit und allzu großem Zukunftsoptimismus warnt.
Norman M. Naimark
Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert.
Aus dem Amerikanischen von Martin Richter.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 300 S., 26,90 Euro
Enrico Syring ist Zeithistoriker und frei arbeitender Publizist; er lebt in Climbach bei Gießen.