Die Deutschen haben in der Weltpolitik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt. Der von Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, herausgegebene Band ist aber keine Geschichte Deutschlands in dieser Zeit. Vielmehr haben sich vier Autoren die Aufgabe gestellt, vier politische Systeme, die Weimarer Republik (Siegfried Weichlein), das Dritte Reich (Daniela Münkel), die Bundesrepublik Deutschland (Julia Angster) und die DDR (Stefan Wolle) in den Bereichen "Demokratie und Diktatur", "Kultur", "Wirtschaft und Konsum" sowie "Mentalität" zu untersuchen.
In den vergleichenden Darstellungen arbeiten sie heraus, worin die grundsätzlichen Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten dieser vier Systeme bestehen. Abgesehen von den Abschnitten zur Geschichte der DDR, die überwiegend durch ein einseitiges Herangehen gekennzeichnet sind, bieten die Autoren neben bekannten Fakten und Einschätzungen auch neue differenzierte Wertungen des geschichtlichen Prozesses.
Interessant sind solche Feststellungen wie die, dass die Weimarer Demokratie und die Bundesrepublik Deutschland und ebenso - trotz Krieg und Revolution - das Kaiserreich und die Weimarer Republik ein hohes Maß an Kontinuität aufwiesen. Abweichend von manchen anderen Darstellungen wird darauf hingewiesen, dass schon mit dem ersten Präsidialkabinett Brüning im März 1930 zunächst der Parlamentarismus zugrunde ging, dann schleichend die demokratische Partizipation und schließlich offen die republikanischen Institutionen zerstört wurden.
Im Abschnitt "Ankunft im Westen: Die Bundesrepublik Deutschland" wird nachgewiesen, dass mit dem Ende des Krieges in Europa im Mai 1945 die "Stunde Null", der vollkommene Bruch mit allem Vorangegangenen, nicht stattgefunden hatte. Auch wenn fast alle politischen Richtungen, so auch die wieder- oder neugegründeten Parteien SPD, KPD, FDP, CDU und in Bayern die CSU, in den ersten Jahren des Wiederaufbaus nach einer Neuordnung der Verhältnisse strebten und sozialistische Programme verabschiedeten, so erwiesen sich doch die alten wirtschaftlichen Strukturen als widerstandsfähig.
Obwohl die späten 70er- und die 80er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland von einer Krisenstimmung gekennzeichnet waren, fanden die Menschen in der DDR die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft und ihren Sozialstaat attraktiv. Als 1989/90 die DDR zusammenbrach, entschied sich eine große Mehrheit der Bevölkerung für die Wirtschafts- und Währungsunion. Die D-Mark wurde zum Symbol für eine bessere Zukunft. Diese lässt jedoch auf sich warten. Die wirtschaftliche Lage in den "neuen Bundesländern" ist nach wie vor desolat, und die Anfangsschwierigkeiten der ehemaligen DDR-Bürger mit der oft unbarmherzigen Marktwirtschaft waren und sind groß.
Abschließend bietet Winfried Speitkamp einen sehr interessanten Exkurs in die Erinnerungskultur und das "deutsche Gedächtnis". Er geht ein auf das Bemühen um eine Offenlegung der Ambivalenzen der Geschichte und das Bestreben, die gemeinsame Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, ist aber der Auffassung, das diese harmonisierende Historisierung nicht verhindern konnte, dass im Innern Deutschlands der Riss zwischen West und Ost noch bestehen blieb, manchmal sogar als vertieft empfunden wurde. Nur ansatzweise deutete sich eine Verschmelzung der beiden Erinnerungskulturen an, etwa wenn das Brandenburger Tor, das von seinem Standort in der Mitte Berlins und von seiner baulichen Umgebung her ideale Bedingungen dafür bot, als Mittelpunkt zivil-nationaler Volksfeste diente.
Speitkamp stellt auch fest, dass die personelle Erneuerung, die zu einem weitgehenden Austausch der "Funktionseliten" zumindest im öffentlichen Dienst führte, nicht integrativ wirkte, sondern oft neue Gräben entstehen ließ. Er kommt zu dem Schluss, dass sich das kollektive Gedächtnis in der Auseinandersetzung über die Deutung gemeinsamer Erinnerungsorte, über Brüche und Konflikte der Geschichte ständig weiter entwickelt und daher von einem Ende der Geschichte keine Rede sein kann. Die Geschichte Deutschlands zwischen 1945 und 1989 würde immer noch als eine zweifache Geschichte erinnert. Die deutsche Teilung lebe in einer Spaltung des kollektiven Gedächtnisses fort.
Das Buch wendet sich vor allem an historisch und politisch Interessierte, an Schüler und Studenten. Ein Anfang ist gemacht, um die deutsche Geschichte im zu Ende gegangenen Jahrhundert zu untersuchen. Eine Gesamtgeschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert steht also noch aus.
Edgar Wolfrum (Hrsg.)
Die Deutschen im 20. Jahrhundert.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2004; 320 S., 29,90 Euro
Kurt Laser arbeitet als freischaffender Historiker und Wissenschaftspublizist in Berlin.