Themen wie Massenzuwanderung bei Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung sowie der Fastbankrott unserer sozialen Sicherungssysteme stehen hier wohl an erster Stelle. Mit der Tabuisierung auch der offensichtlichen Integrationsprobleme von Minderheiten ist verbunden die des Selbstverständnisses der eigenen Nation. Damit hängt wiederum zusammen eine ganz bestimmte, einseitige Interpretation unserer Zeitgeschichte. Dass auch hier ein zutiefst gestörtes Verhältnis vorliegt, das wird uns vor allem vom Ausland immer wieder vorgehalten.
Wie kann man aus dieser "Denkfalle Zeitgeist" herauskommen, wo ist der "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit"? Für Kant war dies nur möglich aufgrund des individuellen Mutes vieler, sich ihres eigenen Verstandes ohne Bevormundung zu bedienen.
Dieser Band, der zahlreiche Aufsätze aus der Zeitschrift "Mut" - dem "Forum für Kultur, Politik und Geschichte" - versammelt, zum Teil aktualisiert, ermöglicht eine gegenüber der "herrschenden Lehre" etwas andere Sicht und Interpretation bekannter Probleme. Darüber hinaus versucht er, "Wege aus der Gefahr" aufzuweisen, indem ein - eher konservativer - Standort beschrieben wird, von dem aus sich die Autoren mehr realitätstüchtige Selbstvergewisserung und Zukunftsfähigkeit erhoffen.
So fragt Klaus von Dohnanyi: "Hat uns die Erinnerung das Richtige gelehrt?" Er verneint diese Frage insofern, als etwa die hochgelobten Tugenden des deutschen Widerstands - Mut, Zivilcourage, Verpflichtung auf das Gewissen - heute zu bloßen Leerformeln geronnen seien. In der politischen Praxis würden sie ganz im Gegenteil persönliche und gesellschaftliche Ächtung zur Folge haben, wenn mutige "Andersdenkende" ihre Meinung vertreten. Dies gilt auch für manche Aspekte deutscher Zeitgeschichte, wie Arnulf Baning und Peter Steinbach verdeutlichen.
Eine kritischere Sichtweise gibt es auch bei den Analysen derzeitiger Politikfelder: "Haben wir eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems?" Und falls ja, was bedeutet das? Die Antworten ist bei Eckhard Jesse zu finden. Ernst-W. Böckenförde und Ralf Dahrendorf wiederum befassen sich mit den inneren Gefährdungen des Parlamentarismus: Wie gelangt man (wieder) zu einer demokratischen Willensbildung, die diesen Namen verdient? Wie sind die Erstarrung und die zunehmende Bürgerferne der parlamentarischen Institutionen zu verhindern?
Zahlreiche Beiträge widmen sich den Gefahren und Chancen zukünftiger Entwicklungen. So befürchtet Ralph Giordano, dass der Islamismus zum Totalitarismus des 21. Jahrhunderts werden könnte, während Peter Schütt im friedlichen Miteinander von Kirchen, Moscheen und Synagogen "Orientierungspunkte für eine europäische Leittradition" der Zukunft sieht. Sehr viel skeptischer ist Hermann Lübbe. Die einzig adäquate Reaktion auf die sich immer weiter steigernde Dynamik gesellschaftlicher wie technologischer Veränderungen sieht er in einer gleichermaßen gesteigerten Lernfähigkeit - ein einfacher Begriff für eine höchst komplexe, schwierige Tugend. Und sie ist auch himmelweit entfernt von der "Spaßgesellschaft", wie sie Reiner Kunze mit seiner Absurdität in einem unübertrefflichen Gleichnis vorführt, deren Ende aber Horst W. Opaschowski voraussieht.
Ein "konservativer"Gesellschaftsentwurf gegenüber den vorherrschenden Tendenzen von Desintegration, Anomie und Apathie, vor allem aber auch für eine stärkere Zukunftsfähigkeit ist nicht denkbar ohne ethische Selbstvergewisserung. Auch hier seien nur zwei Autoren genannt, Friedhelm Farthmann und Richard Schröder: Nur eine Zivilgesellschaft, deren Leitidee nicht primär die Selbstverwirklichung des Einzelnen oder von Minderheiten ist - da dies zumeist nur auf Kosten anderer insgesamt möglich sei -, könne den Herausforderungen zukünftiger, bisher in dieser Dimension unbekannter Umbrüche standhalten.
Bernhard C. Wintzek (Hrsg.)
Denkfalle Zeitgeist. Eine Ermutigung zu Maß und Mitte in 40 Essays.
MUT Verlag, Asendorf 2004; 552 S., 34,80 Euro
Der Autor war über viele Jahre verantwortlicher Redakteur der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte".