Die 60 Jahre deutscher Kultur von 1945 bis zur Gegenwart auf nur gut 300 Seiten, dessen ist sich Hermann Glaser natürlich bewusst, kann nur episodenhaft und exemplarisch erfolgen. Kultur ist für ihn, was Menschen "produktiv bearbeitet oder gestaltet" haben, und dazu zählt neben den schönen Künsten auch Wirtschaft, Politik, Soziales, Film und Mode. Seine "west-östliche Erzählung" ist als Geschichte der beiden deutschen Staaten sowie der nach 1989 entstandenen "Berliner Republik" angelegt; kritisch wird hinterfragt, wieweit wir Deutschen es nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich gebracht haben.
Nach Ansicht des Autors ist spätestens mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Bundesrepublik in "konturlose Beliebigkeit" abgedriftet, sind Skandale, die es schon immer gegeben hatte, zum "Dauerzustand" und ist seitens der Parteien "Machterhalt zum Selbstzweck" geworden. Gegängelt durch "neoliberale Selbstdressur-Programme" haben sich Egoismus sowie Gleichgültigkeit gegenüber Schwachen, Ausgebeuteten und Verfolgten zum "Gemeinschaftserlebnis" entwickelt.
Das klingt hart. Wer aber die einzelnen Kapitel Revue passieren lässt, wird Glaser in vielen Punkten Recht geben. Denn schon von Anfang an, bereits in den ersten Nachkriegsjahren, lief keineswegs alles rund. Die Aufarbeitung der NS-Diktatur blieb aus. In der von den Alliierten inszenierten Entnazifizierung wurden meist nur Mitläufer und gering Belastete belangt, während die wirklich Schuldigen häufig in ihre alten Positionen als Ärzte, Richter, Wissenschaftler oder Unternehmer zurückkehren konnten.
Überwiegend bestimmten "die Alten" die Nachkriegszeit, die Jungen blieben außen vor. Erst Ende der 60er-Jahre änderte sich das Bild, drängte eine unbelastete Generation nach oben und erzwang Reformen und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Doch schon bald verebbte diese Bewegung wieder. Junge Leute zogen es jetzt vor, individuellen Interessen nachzugehen, sich den neuen sozialen und ökologischen Bewegungen anzuschließen und Politik weit gehend den gewählten Volksvertretern zu überlassen.
Verhängnisvoll war, so der Autor, die Entwicklung zur "Konsumdemokratie". Der Durchschnittsbürger sucht nur noch das "persönliche Glück", das sich in materiellem Wohlstand mit Eigenheim und Auto erschöpft. Eine geschickte und allgegenwärtige Werbung in den Massenmedien fördert den Konsumrausch, macht blind für anspruchsvollere Kulturangebote und schwächt das Interesse an sozialen Innovationen und persönlicher Verantwortung. Glasers zeigt: Die "humane Entwicklung an der Gesellschaft" stagniert, die Postmoderne ist durch einen "Zustand geistiger Erschlaffung" gekennzeichnet.
Wird die gegenwärtige Zivilisation, wie es Sigmund Freud 1930 in seiner Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" angedeutet hat, durch den ungezügelten "menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb" zugrunde gehen oder, mit Hilfe des "ewigen Eros", einen Ausweg finden? Glaser, der sich selbst als "pessimistischen Optimisten" bezeichnet, ist verhalten zuversichtlich. Ansätze für kulturelle Investitionen seien vorhanden. Entscheidend für einen Wandel zur Verhinderung einer Katastrophe ist seiner Überzeugung nach die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze der Gesellschaft, egal in welchem Beruf. Nur sei es wichtig, dass der Einzelne begreift, dass er "keineswegs so schwach ist, wie es zunächst angesichts des Weltelends erscheint".
Summa summarum ein spannendes Buch, das die zurückliegenden Jahre deutscher Vergangenheit facettenreich schildert und viel Zustimmung vor allem unter kritischen Lesern finden wird.
Hermann Glaser
Kleine deutsche Kulturgeschichte.
Eine west-östliche Erzählung vom Kriegsende bis heute.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2004; 336 S., 22,90 Euro
Thilo Castner lebt als freier Journalist im fränkischen Kalchreuth; er bearbeitet vorwiegend sozialpolitische und zeitgeschichtliche Themen.