Eigentlich ein Wunder", so Nobelpreisträgerin Christine Nüsslein-Volhard im Vorwort zu ihrem soeben erschienenen Band über das Werden des Lebens: Tiere entstehen aus einer befruchteten Eizelle, die noch so gar keine Ähnlichkeit mit der Gestalt des sich aus diesem Ei entwickelnden Lebewesens hat. Wie aber entsteht diese - neue - Ordnung?
Molekulargenetische Methoden, das Analysieren von Genen und der von ihnen codierten Proteine, hätten der Entwicklungsbiologie in den vergangenen 50 Jahren enorme Fortschritte beschert. Dabei erkenne man heute bei aller Vielfalt viel Gemeinsames, das sich dank weitgehender Übereinstimmung der molekularen Parameter von Genen und ihrer Produkte vergleichsweise einfach erklären lasse.
Das Buch sei vor allem für Leser mit Interesse an Biologie, für Chemiker, Physiker und Mediziner gedacht, aber durchaus auch für Lehrer, Studierende und Schüler mit möglicherweise lückenhaften biologischen Grundkenntnissen. Es solle keinesfalls ein Lehrbuch oder gar Nachschlagewerk ersetzen (dennoch: zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang das allerdings knappe Glossar im Anhang). Die Autorin erhofft sich aber auch Leser unter Philosophen, Juristen und Politikern, die sich in politischen Debatten Fragen zu Genen und Embryonen stellen müssen.
Der Text beginnt mit einem Kapitel über die Evolutionstheorie und die Vererbungsgesetze. Es folgen in den Kapiteln "Zellen und Chromosomen" sowie "Gene und Proteine" die Grundlagen der Zell- und Molekularbiologie.
Der Hauptteil des Buches aber ist der Frage gewidmet, wie Gene die Entwicklung steuern und wie Gestalt entsteht. Diese Fragen werden vor allem und besonders ausführlich an Forschungsergebnissen mit der Fruchtfliege Drosophila abgehandelt, für die die Autorin mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Drosophila ist den meisten Leserinnen und Lesern sicherlich noch als "Objekt" der klassischen Genetik vertraut. Die umfangreichen Vorarbeiten auf genetischem Gebiet aber prädestinieren die Fruchtfliege auch für die Erforschung gengesteuerter entwicklungsbiologischer Prozesse.
Beeindruckend ist die Fähigkeit der Autorin, komplexe Sachverhalte verständlich und mit Unterstützung zahlreicher Abbildungen anschaulich darzustellen: Wie im sich entwickelnden Embryo Konzentrationsabhängigkeit und Schwellenwerte bei Genaktivierungen, die Induktion von Polaritäten und Segmentierungen, Überlagerungen und Kombinationen hemmender oder aktivierender Faktoren ineinander greifen.
Die Kapitel "Wirbeltiere" und "Mensch" belegen einerseits die großen Unterschiede in deren Entwicklung im Vergleich zu der der Arthropoden, aber auch innerhalb der verschiedenen Wirbeltierklassen. Andererseits überraschen homologe Strukturen, die auf gemeinsame Vorfahren in der Evolution hindeuten: Gene, die beim Frosch entdeckt wurden, können auch beim Huhn oder der Maus (und vermutlich auch beim Menschen) entsprechende Funktionen erfüllen. Sogar bei Drosophila entdeckte und in ihrer Funktion bekannte Entwicklungsgene haben homologe bei Wirbeltieren!
So sind Untersuchungen an Modellorganismen gleichzeitig die wichtigste Quelle für das Verständnis auch der Funktion menschlicher Gene, da einschlägige Experimente aus der Tiergenetik wie zum Beispiel gezielte Kreuzungen und das Induzieren von Mutationen beim Menschen ausgeschlossen sind.
Nach der Behandlung der Entstehung und Evolution von Tier und Mensch widmet sich die Autorin im Schlusskapitel einigen auch für Medizin, Wirtschaft und Politik "Aktuellen Themen" wie der Embryonen- und Stammzellforschung, der Präimplantationsdiagnostik (PID) und dem Klonen. Die Präimplantationsdiagnostik sei in Deutschland für allenfalls 200 Paare jährlich indiziert. Hier aber könnte eine Frühdiagnose vor der Implantation eine spätere - erlaubte - Abtreibung erbkranker Föten vermeiden helfen. Das Problem einer Weiterung von PID auf die Erzeugung von "Menschen nach Maß" stellt sich nach Ansicht der Autorin nicht: natürliche Grenzen, wie etwa der sehr komplexe Zusammenhang zwischen Gen und Eigenschaft, setze hier möglichen Visionen Schranken.
Das Klonen von Menschen werde von Forschern weltweit auch aus ethischen Gründen abgelehnt und sei in vielen Ländern ausdrücklich verboten. Im Blick auf embryonale Stammzellen hält sie es demgegenüber für geboten, dass auch Deutsche sich an der Erforschung möglicher Therapien beteiligen, die - sollten sie im Ausland entwickelt werden - deutschen Patienten ja nicht vorenthalten werden dürften. Der Kompromiss, Forschung nur an bereits vor dem 1. Januar 2002 im Ausland etablierten Stammzelllinien zu gestatten, sei unvernünftig. Hier beklagt die Autorin - nicht zum ersten Mal und nicht nur im vorliegenden Buch - das große Misstrauen der Politik den Forschern gegenüber.
Aber: sind mögliche alternative Ansätze, etwa die Erforschung des Potenzials somatischer Stammzelllinien, ausgeschöpft und ausgelotet? Ist Misstrauen Forschern gegenüber nicht angebracht oder gar geboten angesichts gerade mal ein Jahr zurückliegender lauttönender Ankündigungen aus den USA und Italien - sogar jüngst aus London -, erste menschliche Klone seien bereits unterwegs?
Ein interessantes und empfehlenswertes, fast spannend zu lesendes Sach- wenn nicht Fachbuch, auch wenn es Politikern oder Juristen, die sich vielleicht seit Verlassen der Schulbank nicht mehr mit biologischen Themen haben befassen müssen, Einiges abverlangt.
Christiane Nüsslein-Volhard
Das Werden des Lebens.
Wie Gene die Entwicklung steuern.
C.H. Beck Verlag, München 2004; 208 S.,
50 Abbildungen, 19,90 Euro
Professor Wolfgang Hanneforth ist Biologe und hat bis zu seiner Emeritierung an der heutigen Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg gelehrt.