Chronist des Beiläufigen" nennt sich der Dichter. Ende 1979 begann Günter Kunert, sich Notizen zu machen, über Erlebtes und Gedachtes, über Mystik und Realität, über Politik und immer wieder über den Zwang zum Schreiben. Notizen sind für ihn so etwas wie Gegenwehr, "Schutz vor Überwältigtwerden durch die Ungeheuerlichkeit des erklärlichen menschlichen Daseins." Ein Tag ohne Wortemachen hat für ihn gar nicht stattgefunden.
Die Themen sind breit gespannt, die Genres von großer Vielfalt: Kürzestgeschichten (eine Kunert'sche Worterfindung), Aphorismen und Anekdoten, Feuilletons, Parabeln und Sprüche, Gedächtnisstützen für einen späteren Text, der sich meist erübrigte. Die Aufzeichnungen steuern auf eine Pointe zu. Die tut manchmal weh; ein Trostspender ist Kunert nicht. Seine bis in die 50er-Jahre reichenden Aufzeichnungen sind nun in einem Band zusammengefasst, in thematische Kapitel geordnet, nicht chronologisch aufgereiht.
Von Schreiben ist die Rede, von Dichtern, Zeitgenossen und Legenden, von Gewalt und Denkungsarten, vom Eros ("immer hat ein erotisches Moment die Feder zu führen"), von Altern und Tod. Kunert schreckt auf aus Selbstzufriedenheit und Behäbigkeit. Er konstatiert und erinnert sich genau an Fakten. An Stasi-Zeiten zum Beispiel, an Bedrängnisse in seinem DDR-Leben, wie er getrieben wurde, in die Fremde zu gehen. Wie er sich zurechtfinden musste mit Marianne, der Ehefrau seit Jugendjahren, wie er in die Einsamkeit eines Dorfes zog, das längst sein Zuhause ist.
Seine Bekanntschaft mit Brecht liegt 50 Jahre zurück. Der Meister ist ihm noch immer gegenwärtig. Über Biermann erfahren wir, dass ihm da ein schüchterner, einsamer Mann am Tisch gegenüber saß. Ich las schon Gegenteiliges über den stachligen Liedermacher. Gerade diese sehr andere Sicht Kunerts, oft stark egozentrisch, ist eine Eigenschaft, zu der er sich als Voraussetzung fürs Schreiben bekennt. Er versetzt den Leser in Spannung. man fühlt sich provoziert, eigene Erfahrungen dagegen zu setzen. Kunert als gnadenloser Gedanken-Herausforderer, - das bringt Vergnügen beim Lesen, manchmal auch Anstrengung. Er verrät etwas von seiner früheren Identifikation mit dem introvertierten Ich des Dichters, dem außer dem Werk "alles andere gleichgültig ist".
Von ewigen Wahrheiten hält er nichts. Skeptisches Denken ist ihm Hauptantrieb beim Schreiben. Er mutet dem Leser bittere Erkenntnisse zu, schwelgt aber auch in poetischen Bildern, fabuliert mit unglaublicher Phantasie, erfindet Wortgebilde; manchmal fallen ihm Sprüche ein, die launig und banal zugleich sind, dann wieder feine Ironie und Sarkasmus.
Günter Kunert, in diesem Tagen 75 Jahre alt geworden, widerspricht mit Lust und widerspricht manchmal auch sich selbst. Keinen Respekt hat er vor Genies und großen Namen. Gedankensplitter über Goethe etwa, der kein Zweifler war, gar nicht skeptisch, "und just dies ist die Stelle, an der er sterblich sein dürfte". E. T. A. Hoffmann, der seine kurzen 46 Jahre mit aller Intensität für sein Schaffen nutzte, wird bewundert. Heute, so Kunert, ist dieses Gespür für verrinnende Zeit verloren gegangen, "als wäre unsere Existenz ewig". Dabei, so seine Überzeugung, sei unsere Epocher weitaus bedrohter als die voriger Jahrhunderte.
Stets verbirgt sich hinter seinen Betrachtungen ein Stück eigene Biografie. Besonders deutlich zeigt sich das bei der Erinnerung an die DDR-Diktatur, an die Zeiten danach, an die Wende und Umbrüche. Er nennt - was viele fordern - Unsinn, Ost- und Westdeutsche sollen gleich werden, eins in Fühlen und Denken. Klüger sei, die Unterschiede als Vorzüge zu nutzen und als Gewinn zu erkennen.
Entspannend ist zu lesen, wie er über Genüsse ohne Reue nachdenkt. Die Stille gehört dazu, bei Lärm könne er auf Dauer nicht leben. Kunert sucht Ruhe und stellt fest, "nichts schwerer als das". Über Reisen fabuliert er und Lieblingsorte, über Beziehungen, die im Laufe des Lebens entstanden sind und wieder zerbröckelten; wenige blieben. Wenn er über das Alter schreibt, erkennt man Aussichtslosigkeit und Überdruss. Mit Marianne hat er sich die Grabstelle ausgesucht für einst. Zur Ruhe kommen will er in Berlin, wo er geboren ist, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.
Das letzte Kapitel widmet er dem Weltende. Das sei nicht mehr abzuwenden. Das Nachwort will relativieren, spricht von der Vermutung, stellt Warnschilder auf, beabsichtigt eine Art Schocktherapie für die ignorante Menschheit. Ich lese diese Hoffnung bei ihm nicht. Das aber ist das Großartige an seinen Texten: Man kann sie für sich entschlüsseln, zustimmen oder ablehnen, durchforsten, dies und jenes erneut zur Hand nehmen und Kunert wiedersprechen, der am Ende sagt: "Das Wundern hat aufgehört."
Günter Kunert
Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast. Aufzeichnungen.
Carl Hanser Verlag, München 2004; 335 S., 21,50 Euro
Stefanie Hoffmeister arbeitet als freie Journalistin in Berlin.