Christa Wolf noch ausführlich vorzustellen, hieße Eulen nach Athen tragen. Seit ihrem Romanerstling "Der geteilte Himmel" sind über "Kindheitsmuster", "Kassandra" bis zur jüngsten Erzählung "Leibhaftig" unzählige Leser in Ost und West mit ihr gegangen. Jedesmal im Herbst wollen Gerüchte wissen, sie gehöre zum engsten Kreis der Anwärter auf den Literaturnobelpreis; zu wünschen wäre er ihr.
So wie ein Dirigent ein Dienst- oder Altersjubiläum mit einem selbst geleiteten Konzert begeht, so hat die Autorin Christa Wolf ihren Leserinnen und Lesern schon vor einem halben Jahr ein Geschenk gemacht, auf das hinzuweisen auch jetzt nicht zu spät ist: Unter Berufung auf Maxim Gorki, der im Jahre 1935 die schreibende Zunft angeregt hatte, einen bestimmten Tag im Jahr zu dokumentieren, hatte 25 Jahre später die Moskauer "Iswestija" dazu aufgerufen, jeweils den 27. September in Vers oder Prosa festzuhalten.
Christa Wolf war dieser Anregung gefolgt und hat seitdem 40 Jahre lang penibel den jeweiligen Tagesablauf am 27. September dokumentiert und reflektiert. Unwahrscheinlich ist, dass sie gleich von Anfang an eine Veröffentlichung beabsichtigt hatte, denn die Aufzeichnungen spiegeln lange Zeit eine sehr persönliche Art des Schreibens, des Zusehens und Bewertens wieder. Zur Veröffentlichung habe sie sich, wie sie überzeugend sagt, endlich entschlossen, weil man irgendwann beginne, "sich selbst historisch zu sehen". Der historische Abstand schaffe auch eine stärkere Objektivität sich selbst gegenüber.
Man kann diesem Buch gegenüber, gerade weil Christa Wolf ihre starke Subjektivität gar nicht verhehlen will und kann (nichts wurde im Nachhinein verändert, geglättet oder verbessert), nicht gleichgültig sein. Fast vom ersten Tag an, das war 1960, wird der Leser hineingezogen in ihre Welt, nimmt an Sorgen und Freuden, an Treffen mit Freunden (und Feinden), an Leseerfahrungen, an ständigen Reflexionen über Literatur, Kunst und - dies als ständiger Hintergrund - über die Politik beider Staaten im geteilten Deutschland und dann im wieder geeinten Land teil. Dabei wechseln ständig Stil und Tonfall: zum einen fast nüchterne Reportage, dann wieder Emotion, Ärger und oft ein feiner, sehr subtiler Humor. Und, so der Eindruck, mit zunehmendem Alter größere Gelassenheit im Umgang mit Menschen, aber Sorge um die bedrohte Natur. Es ist ein Lesebuch zur Geschichte der vergangenen 40 Jahre par excellence wie wenig andere. Danke und Glückwunsch zum 75.!
Christa Wolf
Ein Tag im Jahr. 1960 - 2000.
Luchterhand Literaturverlag, München 2003;
656 S., 25,- Euro
Der Autor ist verantwortlicher Redakteur dieser Zeitung für das Ressort "Das Politische Buch".