Das erste Verfahren gegen den Ex-Diktator neigt sich dem Ende zu. Die Staatsanwaltschaft hielt ihr Schlussplädoyer und forderte die Todesstrafe für Saddam Hussein, seinen Halbbruder und ehemaligen Chef des Geheimdienstes Muchabarat, Barzan Ibrahim al-Hassan al-Tikriti und seinen ehemaligen Stellvertreter Taha Jassin Ramadan. Am 10. Juli kommen die Verteidiger zu Wort. Danach wird sich das Gericht zur Urteilsfindung zurückziehen. So jedenfalls ist das Prozedere geplant.
Doch planen kann man im Irak derzeit nur schwer. Immer wieder wurde der Prozess von unvorhersehbaren Ereignissen unterbrochen. Viele Verhandlungstage fielen aus oder mussten verschoben werden, weil die Zeugen nicht erschienen, Anwälte erschossen wurden oder der erste Vorsitzende Richter seinen Rücktritt einreichte. Jüngster Zwischenfall: Am vergangenen Mittwoch wurde Khamis al-Obeidi, Mitglied des elfköpfigen Verteidigerteams, aus seinem Haus in Bagdad entführt und eine Stunde später tot aufgefunden. Jeder, der an diesem Prozess beteiligt ist, steht mit einem Fuß im Grab. Die meisten Zeugen wollen deshalb unerkannt bleiben. Um den Zeugenstand im Gerichtssaal ist ein brauner Vorhang gezogen. Die Zeugen und die drei Staatsanwälte sind während der Verhandlungstage in einem eigens für sie hergerichteten Gebäudekomplex untergebracht. Den Verteidigern hat man eine bewachte Villa zur Verfügung gestellt. Die fünf Richter wohnen in dem einzigen Hotel, das es in der schwer bewachten "Grünen Zone", dem Regierungsviertel, gibt. Auf dem etwa zehn Quadratkilometer großen Gelände liegt auch das Gerichtsgebäude, genau gegenüber der zurzeit neu entstehenden amerikanischen Botschaft. Momentan residiert die US-Administration noch in Saddam Husseins ehemaligem Regierungspalast.
Wie ein Hochsicherheitstrakt mutet das ehemalige Hauptquartier der Baath-Partei an, dessen rechter Flügel zum Gerichtsgebäude hergerichtet wurde. Seine neoklassizistische, kubische Bauweise vermittelt auch heute noch einen monumentalen Eindruck. Fast schon sakral erscheint das Innere: hohe Räume, schwere Kronleuchter, Großzügigkeit, Erhabenheit. Im ehemaligen Sitzungssaal der im Saddam-Regime alles bestimmenden Baath-Partei tagt nun seit acht Monaten das Gremium, das über die Verbrechen des Ex-Diktators richtet. An der mit grauem Granit getäfelten Hauptwand sind zwei Waagschalen und ein Koranvers aus Messing angebracht, der die Suche nach der Wahrheit anmahnt. Saddam Hussein witzelte in einer der ersten Sitzungen über den Raum als "ein schönes Badezimmer". Der Richter fragt die Zeugen, ob sie Moslems oder Christen seien. Je nachdem müssen sie ihren Eid auf den Koran oder die Bibel schwören. Es gibt ununterbrochen Strom im ganzen Gebäude und die Klimaanlagen funktionieren. Es ist blitzblank und geordnet. Das ist ungewöhnlich im heutigen Bagdad.
Wie überhaupt alles an diesem Prozess ungewöhnlich und irgendwie surreal erscheint. Während amerikanische Journalisten mit einer formellen Anmeldung ohne weiteres ins Gerichtsgebäude zugelassen werden, müssen andere einen dreistündigen Sicherheits-test im Vorfeld über sich ergehen lassen. Sämtliche Fingerabdrücke werden penibel registriert, eine Kamera fotografiert nicht nur alle Seiten des Kopfes, sondern auch in die Ohren und die Augen. Der anschließende Fragebogen will Antworten über die Herkunft des Antragstellers, seine Kontakte zu unterschiedlichen Organisationen, Details über seine Arbeit. Auch Iraker müssen diese Prozedur über sich ergehen lassen. Federführend bei der Verteilung der Plätze im Gerichtssaal ist die US-Botschaft. Dabei soll der Prozess rein irakischen Charakter haben. Ein irakisches Gericht soll über einen der grausamsten Herrscher in der Geschichte des Zweistromlandes richten. So jedenfalls war es zu Beginn, am 19. Oktober 2005, verkündet worden. Deshalb findet das Sondertribunal gegen Saddam Hussein auch in Bagdad statt und nicht in Den Haag oder Stockholm, wie es anfangs erwogen wurde. Mit einem Gesetz vom Dezember 2003 wurde es von der ersten irakischen Übergangsregierung eingesetzt, sein Statut von einem eigens dafür gegründeten Komitee geschaffen. Die USA finanzieren es mit 75 Millionen Dollar.
Je mehr Prozesstage vergingen, desto mehr wurde deutlich, dass die Beteiligten überfordert sind. Was anfänglich mit hehren Absichten begann - Iraker richten Iraker - ist zum absurden Theater verkommen. Angeklagte und Zeugen benutzen die Bühne, um politische Statements abzugeben, Koranverse oder Gedichte vorzutragen. Der Richter witzelt über die rote Krawatte eines der Verteidiger oder fragt einen Übersetzer, ob er außer einem Schluck Wasser auch etwas zu essen brauche. Eine gewisse Vertrautheit hat sich im Gerichtssaal eingeschlichen.
Saddam meldet sich zu Wort und steht auf. Staatsmännisch hält er eine Rede. Selbst Chef-Richter Raouf Abdel Rahman hört ihm andächtig zu, nickt zuweilen zustimmend. Er werde sowieso verurteilt, beginnt der Ex-Diktator, der sich noch immer als rechtmäßiges Staatsoberhaupt des Iraks bezeichnet, Besatzung, Besatzer und das Tribunal ablehnt. Es werde erst Ruhe im Irak einkehren, wenn die Amerikaner aus dem Land seien. Unter den Ketten ihrer Panzer fließe mehr Blut als das, worüber hier verhandelt werde, erhebt Saddam seine Stimme und blickt medienwirksam nach allen Seiten des Gerichtssaals. Gedämpft ist ein Mörsergranateneinschlag zu hören: die alltägliche Begleitmusik seit Prozessbeginn.
Das laufende Verfahren ist das erste von insgesamt zwölf, die gegen Saddam Hussein und seine Adlaten angestrebt werden. Es geht um ein Massaker, das im Juli 1982 in Dudscheil verübt wurde. Dudscheil ist ein kleiner Ort nördlich von Bagdad. Nach einem fehlgeschlagenen Mordversuch rächte sich der Diktator an der gesamten Dorfbevölkerung. Er ließ das Dorf bombardieren, die Bewohner einsperren und teilweise foltern, 148 von ihnen ermorden, Häuser und Felder in Brand stecken. Letzteres gibt Saddam zu: "Ich habe einige Ländereien dem Erdboden gleichgemacht, ja. Das heißt aber nicht, dass ich mit dem Bulldozer gefahren bin. Ich habe die Angelegenheit dem Revolutionären Kommandorat übergeben." Für alles andere plädiert er für nicht schuldig und beruft sich auf das damals geltende Recht. "Wenn auf ein Staatsoberhaupt ein Anschlag verübt wird, müssen die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden." Darauf Oberstaatsanwalt Jafar al-Musawi: "Haben alle 148 auf Sie geschossen?"
Die Rechtsform für das Sondertribunal in Bagdad ist kompliziert und alles andere als eindeutig: eine Mischung aus internationalem Recht, früherem irakischen Recht und durch die Übergangsregierung geschaffenen Regeln, die pikanterweise erst zwei Tage vor Beginn des Prozesses im Amtsblatt veröffentlicht wurden. So nennt das Statut Strafbestände, aber kein Strafmaß. Dafür wird das im Saddam-Regime geltende Strafrecht herangezogen. Das im rechtlichen Rahmen verankerte internationale Recht ist eng an die Nürnberger Prozesse und die UN-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda angelehnt. Jedoch die Frage bleibt, wie die Richter die Verfahrensrechte anwenden. Die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch", die zu den meisten der 35 Verhandlungstage einen Beobachter schickte, kritisiert, dass die Schuld der Angeklagten nicht in einer Weise nachgewiesen worden sei, die jeden Zweifel ausschließe, wie dies nach rein internationalem Strafrecht geschehen müsse. Die Vermischung der Rechtssysteme sei daher äußerst problematisch. Was anfangs als Meilenstein in der künftigen Rechtsgeschichte Iraks galt, ist zum Stolperstein geworden.
Ein Beispiel dafür liefert der Schlagabtausch des Verteidigungsteams mit dem Richter in den Tagen vor dem Schlussplädoyer des Staatsanwalts: Die Anwälte beklagen die miserablen Arbeitsbedingungen. Die Sicherheitslage im Lande habe einen Besuch in Dudscheil unmöglich gemacht. Sie bekämen weder Abschriften der Sitzungsprotokolle noch Kopien der Zeugenaussagen. Mehr als 60 Zeugen der Verteidigung seien benannt worden. Nur gut die Hälfte habe der Richter geladen. "Ich will hier keine ideologischen und politischen Reden hören", blafft Raouf Abdel Rahman zurück und verweist Saddams Halbbruder Barzan wegen Aufmüpfigkeit aus dem Gerichtssaal, nachdem er ihm zuvor das Wort erteilt hatte. Der Gerichtsdiener schubst den widerspenstigen Ex-Geheimdienstchef durch die Tür. Die Verteidiger brüllen: "Er hat ihn geschlagen!" Der beigefarbene Vorhang vor der Pressekabine wird zugezogen, die Verhandlung geschlossen. Durch den Schlitz kann man erspähen, wie die Verteidiger ihrem gestürzten Präsidenten die Hände küssen.
Obwohl alle Anzeichen dafür sprechen, dass Saddam Hussein verurteilt wird, spricht der Verlauf des Prozesses eindeutig für ihn. Wie kein anderer Teilnehmer konnte der 69-jährige Mann aus Tikrit Pluspunkte sammeln. Denn je mehr der Irak in Chaos und Anarchie versinkt, je grausamer sich der Alltag für die Bürger gestaltet, desto mehr wächst das Ansehen des einstigen Machthabers. Neueste Umfragen zeigen, dass eine beachtliche Zahl Iraker sich den Diktator zurück-wünschen. Die Mehrheit allerdings will nicht ihn selbst, sondern die Zeiten wieder haben, als noch Ruhe und Ordnung herrschten. Das schäbige Bild, das Saddam bot, als US-Soldaten ihn im Dezember 2003 in einem Erdloch bei Tikrit fanden, hat er durch seine Auftritte im Gerichtssaal wieder wettgemacht. Auch Iraker, die früher gegen ihn waren, lassen jetzt eine gewisse Bewunderung erkennen. Der Kurde Mohammed und der Schiit Mazen, deren Angehörige jahrelang unter dem grausamen Herrscher litten, sagen heute übereinstimmend: "Unsere Situation war unter Saddam nicht so schlimm wie jetzt. Es war überhaupt noch nie so schlimm wie jetzt!" In Bagdad hält sich derzeit hartnäckig das Gerücht, dass Saddam nächstes Jahr wieder an die Macht komme.