Wisams Bruder ist kaltblütig erschossen worden, als er von der Arbeit nach Hause fahren wollte. "Sie haben ihm aufgelauert, als er aus der Grünen Zone rausfuhr." Wisam und seine Frau Sundus befürchten dasselbe Schicksal. Er arbeitet für den irakischen Vizepräsidenten Tarek al-Haschemi, sie für den Vizepremierminister Barham Saleh. Die beiden haben jetzt eine kleine Wohnung in Bagdads schwer bewachter "Grünen Zone" bezogen, sehen ihre Familien kaum, sind völlig isoliert. Wie ein Gefängnis mutet das zehn Quadratkilometer große Terrain am Westufer des Tigris an. Neben den Botschaften der Länder der Kriegsallianz beherbergt es die irakische Regierung und deren Angestellte. Um 22 Uhr werden die Tore zugemacht. Erst um sechs Uhr morgens ist wieder Aus- und Einlass. "Ich fühle mich hier nicht wohl", gesteht Sundus, "aber uns bleibt keine andere Wahl." Seitdem es durch die enormen Sicherheitsmaßnahmen schwieriger geworden ist, Spitzenpolitiker umzubringen, werden ihre Familienangehörigen und Mitarbeiter verstärkt zur Zielscheibe.
Wisam und Sundus sind kein Einzelfall in Bagdad. Täglich explodieren Bomben, werden Menschen gezielt erschossen, entführt oder ausgeraubt. Immer öfter werden Leichen in Abwasserkanälen gefunden: geknebelt, geschlagen, gefoltert. Die Tötungen nehmen immer grausamere Ausmaße an. Jeden Monat kommt das Gefühl auf, jetzt sei doch die Talsohle erreicht - doch jeden Monat wird es schlimmer. Längst ist die Fünf-Millionen-Stadt außer Kontrolle geraten. Nur die Grüne Zone ist noch fest im Griff der US-Truppen. Doch außerhalb, in der so genannten Roten Zone, ist die Hölle los. Wer wen umbringt, ist kaum mehr auszumachen. Es scheint, als ob jeder gegen jeden kämpft. Alte Rechnungen werden genauso blutig beglichen, wie neuerliche Machtkämpfe ausgetragen werden. Sunniten kämpfen gegen Schiiten und umgekehrt, Opfer des Saddam-Regimes rächen sich an den Unterdrückern und Folterknechten von einst, Studenten an ihren Professoren, die Aufständischen an den Besatzern und Al-Qaida bombt gegen alle. Dazwischen sind unzählige Sicherheitsfirmen, die zum Schutz ihrer Auftraggeber alles niederschießen, was ihnen in den Weg kommt. Milizen sprießen wie Pilze aus dem Boden und versuchen ganze Stadtteile unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Mitte Juni in Kraft getretene Sicherheitsplan für Bagdad, von der neuen Regierung als Heilmittel gegen den Terror gepriesen, hat bis jetzt keinen Effekt.
Der neue Premierminister Nuri al-Maliki weiß, dass seine Zukunft dadurch bestimmt wird, ob er die Sicherheit im Lande verbessern kann. In seiner Regierungserklärung Anfang Mai nannte er daher als die ersten drei Punkte seines Programms die Verbesserung der Koordination zwischen irakischen Soldaten und Polizisten, die Lösung der Milizen-Frage und den Abzug der alliierten Truppen aus weiten Teilen des Landes. Doch bevor er sich darum kümmern kann, steht erst einmal die Lösung der Krise in Basra an. Dafür verhängte der Premier einen einmonatigen Ausnahmezustand über die südirakische Stadt und ganztägige Ausgangssperren. Die Schiitenallianz, der auch Malikis Dawa-Partei angehört und die die Mehrheit der Stimmen bei den Parlamentswahlen im Dezember erhielt, droht auseinander zu brechen. Im mehrheitlich von Schiiten bewohnten Süden tobt ein Machtkampf zwischen den insgesamt sieben Parteien der Allianz, die unterschiedliche Milizen unterhalten.
Während das Zentrum Iraks immer mehr in Chaos und Anarchie versinkt, im Süden die Schiiten untereinander Machtkämpfe austragen, mutet der kurdische Norden wie eine Oase der Glückseligkeit an. Ausnahmen sind Mossul und Kirkuk, wo es zuweilen blutige, ethnische Auseinandersetzungen gibt. Um dem ein Ende zu bereiten, schlug der Gouverneur von Iraks drittgrößter Stadt kürzlich vor, Mossul zu teilen. Auch Kirkuk, der Ölstadt vor den Toren der kurdischen Autonomiegebiete, steht noch ein harter Kampf bevor. Laut Verfassung soll bis Ende 2007 der Status von Kirkuk verbindlich geregelt werden. Die Kurden fordern, dass die Stadt in ihren Verwaltungsbereich eingegliedert wird. Die durch Saddam Hussein vertriebenen Einwohner sollen zurückkehren, das ursprüngliche demografische Verhältnis, das der Ex-Diktator zugunsten der Araber verändert hatte, wieder hergestellt werden. Angaben von Regierungsstellen zufolge waren vor den Vertreibungen in den 80er-Jahren mehr als die Hälfte der Bewohner Kirkuks kurdisch gewesen.
Wenn also von der Oase der Glückseligkeit die Rede ist, so bezieht sich dies auf die Gebiete Erbil, Suleimanija, Dohuk und die Bergregionen im Norden und Osten, an den Grenzen zur Türkei und zum Iran. Dort gibt es 15 Stunden Strom täglich. Ein Luxus für den heutigen Irak. In Bagdad ist mittlerweile der Notstand der Elektrizitätsversorgung eingetreten: Alle vier Stunden gibt es ein bis eineinhalb Stunden Strom - und dies bei inzwischen 45 Grad im Schatten. Auch Benzin ist im Norden leichter zu haben. 40 Liter pro Woche können pro Auto getankt werden. 650 Dinar (etwa 40 Cent) kostet der Liter dort. In Bagdad dagegen ist Treibstoff fast nur noch auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Der Liter wird für einen Euro und mehr gehandelt. Doch das "Schlaraffenland" im Norden kommt nicht von Ungefähr. Nach jahrelangem erbitterten Bruderzwist zwischen den Kurdenführern Barzani und Talabani haben sich beide jetzt für Aussöhnung entschieden. Am 7. Mai hat sich zum ersten Mal eine gemeinsame Regionalregierung gebildet, deren Sitz gerade in Erbil eingerichtet wird. Das kurdische Regionalparlament tagt regelmäßig und versteht sich als Kontrolle der Macht. Allerdings müsse noch vieles getan werden, sagte der Parlamentspräsident im Gespräch mit "Das Parlament". Die größte Herausforderung für die Volksvertreter, so Adnan al-Mufty, sei die Aufdeckung und Bekämpfung der Korruption, die bis in alle Schichten der Bevölkerung hineinreiche. Demokratien entstünden halt nicht über Nacht.