Nach dem in Saudi-Arabien geltenden islamischen Mondkalender, der auch von Sunniten anderswo beachtet wird, befindet sich das Land der Hüter der Heiligen Stätten "erst" im Jahre 1426 nach der Hijra (Hedschra), dem Auszug des Propheten Mohamed aus seiner Geburtsstadt Mekka. Im schiitischen Iran wiederum gilt das Sonnenjahr 1384. Die Kurden dagegen sind schon im Jahr 2705. In Israel indes zählt man gar das Jahr 5765 der jüdischen Zeitrechnung. Und die Assyrer, auf die das gleichnamige Reich in Mesopotamien und der Name des heutigen Syrien zurückgehen, offenbaren mit ihrer Datierung auf das Jahr 6755, dass ihre Kultur noch älter, vielleicht die älteste der Welt ist. Mit diesen symbolischen Zeitunterschieden führt Volker Perthes, der durch zahlreiche Veröffentlichungen und publizistische Kommentare zur Region bekannt gewordene Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, in seinem neuen Buch "Orientalische Promenaden" in die unterschiedlichen Welten und Zeitbegriffe des Nahen und Mittleren Ostens ein.
Was auf den ersten Blick als Verlegenheitstitel anmutet, ist jedoch weit mehr als eine journalistische Reportagereise. In seinem "politischen Streifzug" durch sechs Länder - von Ägypten über Israel und die Palästinensergebiete bis Irakisch-Kurdistan, den Irak und Iran - sucht er sich der ethnisch-kulturell-konfessionellen Pluralität der Region anzunähern. Anders als in seinem Vorgängerband "Geheime Gärten" (2002), in dem der Autor ein systematisches Gesamtbild des politischen Wandels und der gesellschaftlichen Veränderungen in der "neuen arabischen Welt" analysierte, spiegeln sich hier in zahlreichen, keineswegs zufälligen Gesprächen mit Politikern und Vertretern der jeweiligen Zivilgesellschaften, Staaten und Gesellschaften wider, die sich nicht erst seit dem Irak-Krieg im Umbruch befinden. Seine Begegnungen und Impressionen werden - anders als bei manchem so genannten Nahost-Experten, bei dem der Geist immer noch aus Aladins Wunderlampe entfleucht - unterfüttert mit ausreichend wissenschaftlichem Hintergrund und in die historisch-politische Entwicklung gestellt.
Beim Kernproblem, der Palästinafrage, sieht Perthes eine sich von Israel und dem amerikanischen Präsi-denten Georg W. Bush längst bewilligte Zwei-Staaten-Lösung anbahnen, allerdings unter wohl noch strikterer Separierung der beiden Völker und mit unabsehbarem Ausgang. Dabei hat sich die Lage für die Palästinenser, die seit dem jüngsten Wahlsieg der Hamas international zunehmend isoliert sind, sowie mit der voranschreitenden Fertigstellung der Trennmauer durch das heilige Land seit Vollendung des Buches im Sommer 2005 noch dramatischer entwickelt.
Wie von manchen, vor allem in den USA, erhofft und von mindestens ebenso vielen - vor allem den autoritären Regimen der Region - befürchtet, "hat die von Amerika angeführte Irak-Invasion die geopolitischen Verhältnisse im Nahen und Mittleren Osten durcheinander gewirbelt". Ein im Irak selbst unübersehbares Beben, das auch Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien in den Bann zog, urteilt Perthes in seinem nüchternen, gleichwohl gut lesbaren Stil: "Und die Gefahr von gewaltsamen Auseinandersetzungen hat sich erhöht. Man kann von einer geopolitischen Revolution, vielleicht sogar von einem historischen Wendepunkt sprechen." Langjährige Stagnation aus reinem Machterhalt sei an etlichen Stellen der Region einer Unruhe gewichen, die neue Risiken, aber auch neue Chancen berge.
Dabei zeichnet der Autor, der sich mit wissenschaft-lich abgewogenem Urteil wohltuend jeder Dramati-sierung der angeblich überbordenden islami(sti)schen Gefahr und eines zum Medien-Mantra geronnenen Krieges der Kulturen enthält, realistische Dimensionen so mancher Gefahren in der Region angesichts von deren schlichter Unterentwicklung in demokratischer und modernistischer Hinsicht.
Volker Perthes: Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch. Siedler Verlag, München 2006; 400 S., 24,95 Euro