Das Hinterhofhaus macht einen wenig anheimelnden Eindruck: Das Treppenhaus müsste dringend renoviert werden, drinnen - in der Parteizentrale der Wiesbadener SPD - stehen Ikea-Regale und Büromöbel, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Ein rotes Plakat verkündet "Nein zum IrakKrieg". Gegen die Beteiligung Deutschlands an der Intervention der USA im Irak hat sich auch der frisch gebackene Oberbürgermeisterkandidat der Sozialdemokraten stets ausgesprochen. Bis Ende Mai war Ernst-Ewald Roth noch katholischer Stadtdekan und damit der wichtigste Mann von Limburgs Bischof Franz Kamphaus in der hessischen Landeshauptstadt. Nun treibt den 53-Jährigen eine neue Mission. Künftig ist Roth in den Räumen des SPD-Unterbezirks anzutreffen und - statt im geräumigen Pfarrhaus neben der Bonifatius-Kirche - in einer 80 Quadratmeter-Hochhauswohnung auf dem Wiesbadener Gräselberg.
"Politik war mir nie ganz fremd", erklärt der durch das Bistum beurlaubte Priester. Sein Fall wird in der Öffentlichkeit nicht nur kontrovers, sondern auch heiß diskutiert und hat den gebürtigen Westerwälder bis in die Schlagzeilen von "Bild" und "Spiegel" gebracht. Denn anders als evangelischen Pastoren ist katholischen Geistlichen seit 1983 nach dem kanonischen Recht die Ausübung politischer Ämter verboten.
Der letzte katholische Priester in einem politischen Spitzenamt war nach Angaben des Bistums Prälat Ludwig Kaas, der im Deutschen Reichstag vor 1933 Fraktionschef der Zentrumspartei war. Eine Ausnahme macht die kirchliche Autorität nur, wenn das politische Engagement dazu dient "die Rechte der Kirche zu schützen oder das allgemeine Wohl zu fördern". Da "Wiesbaden nicht Sierra Leone ist", wie Kamphaus trocken bemerkt, dürfte dies auf Roth wohl kaum zutreffen.
So bedeutet der Schritt in die Politik, den der ehemalige Stadtdekan - auch in Rücksprache mit dem Bischof - 15 Monate lang abgewogen hat, ein echtes Wagnis. Derzeit ist Roth als Priester beurlaubt und bezieht nach Angaben von Bistumssprecher Daniel Detambel "für eine Übergangszeit" als so genanntes Tafelgeld ein normales Priestergehalt. Mit dem nächsten Schritt - der Suspendierung - werde das Bistum nicht bis zum Wahltermin Anfang nächsten Jahres warten, betont Detambel. Zudem ist der Sieg im Kampf um den Wiesbadener Oberbürgermeisterstuhl für die desolate Wiesbadener Sozialdemokratie, die bei der Kommunalwahl im März 30,2 Prozent erzielte, alles andere als ein Selbstläufer - auch wenn Roth nach den Worten des Wiesbadener Parteivorsitzenden Marco Pighetti ein Kandidat ist, der "sehr stark zieht und große Sympathien in der Stadt genießt".
"Wenn ich keine Chancen gesehen hätte, hätte ich nicht ja gesagt", versichert Roth. "Ich bin auf die andere Seite des Tisches gewechselt", beschreibt er seine Situation. Von 1985 bis 1990 war der Priester und diplomierte Sozialarbeiter zum ersten Mal in Wiesbaden - als Stadtjugendpfarrer. Nach einer Zwischenstation als Diözesanjugendpfarrer kehrt Roth 1996 als Pfarrer von St. Bonifatius und Stadtdekan in die Landeshauptstadt zurück. Er wird Vorsitzender des Gesamtverbands Katholischer Kirchengemeinden, des Caritasverbands und des Verwaltungsrats eines großen Krankenhauses und damit verantwortlich für rund 2.000 Mitarbeiter. Sein Profil erwirbt er im sozialen Bereich. Noch im vergangenen Dezember, als die SPD-Anfrage schon auf seinem Tisch liegt, feiert der Sohn eines Handwerkers unter großer öffentlicher Anteilnahme sein silbernes Priesterjubiläum.
"Es muss einen absoluten Vorrang des Menschen vor dem Kapital geben", lautet nun seine politische Richtschnur. "Wiesbaden ist eine reiche Stadt", räumt er ein. Aber Roth will alle miteinander ins Gespräch bringen von den Wohlhabenden bis zu den Hartz IV-Empfängern und schauen wo "Manövriermasse" ist - auch jenseits des städtischen Haushalts -, um eine soziale Stadt zu verwirklichen. Kinderbetreuung, Pflegefragen, die Wohnsituation in der Stadt gehören zu seinen Themen. "Unsere Messlatte muss die Frage sein: Wie wird Wiesbaden im Jahr 2020 aussehen?", betont er und verweist auf die Integrationsarbeit, die er schon als Priester zwischen Jung und Alt, Reich und Arm und zwischen Christen und Nichtchristen in der Landeshauptstadt geleistet hat. "Auch Politiker leisten einen wichtigen Hirtendienst", sagt er.
Die Wiesbadener Christdemokraten begegnen Roths Kandidatur mit demonstrativer Gelassenheit. Herr Roth werde von der Realität eingeholt werden, kommentiert der Wiesbadener CDU-Chef Horst Klee die Vorstellungen des SPD-Kandidaten. Nach Klees Überzeugung braucht die Stadt keinen Hirten, sondern "jemand, der das Geschäft kennt". Auf die Idee den Stadtdekan zu engagieren wäre seine Partei nie gekommen, versichert der Katholik. "Fachlich fehlt zu viel." Zudem habe Roth durch seine einsame Entscheidung für die Kandidatur "an Glaubwürdigkeit eigentlich alles verloren". Anders als bei der personell ausgebluteten Wiesbadener SPD steht mit dem derzeitigen Stadtkämmerer und Wirtschaftsdezernenten Helmuth Müller der Kandidat der CDU schon lange fest. Zudem soll Müller, der sich in seinem jetzigen Amt den Ruf eines konsequenten Reformers erworben hat, den derzeit vakanten Posten des Bürgermeisters erhalten und damit eine zusätzliche öffentliche Plattform.
Realpolitik ist gefragt bei der CDU. "Auch mit einem Oberbürgermeister Roth wird es keine Stunde Null in Wiesbaden geben", glaubt Klee. Es gehe bei dieser Wahl um Visionen für die Zukunft, betont hingegen Marco Pighetti. "Wir haben ein starkes Team gebildet, das Roth durch den Wahlkampf tragen wird", sagt der SPD-Chef. Doch bis die heiße Phase Anfang nächsten Jahres einsetzt, hat der Kandidat noch einiges vor sich. Regionalkonferenzen, Ortsvereine, Arbeitskreise und Hausbesuche warten auf Roth. Es gebe Sozialdemokraten mit Parteibuch und Sozialdemokraten ohne Parteibuch, erklärt er bei einer solchen Gelegenheiten. "Ich gehöre zur zweiten Gruppe." Oberbürgermeister für alle Wiesbadener will der Priester werden. Und wenn er die Wahl verliert? "Die katholische Kirche hofft immer, dass jemand zurück kommt", sagt Bistumssprecher Detambel. Theoretisch gibt es also eine Rückfahrkarte für Roth, auch wenn es als sicher gilt, dass er in sein Amt als Stadtdekan nicht zurückkehren wird. Der Kandidat jedenfalls betrachtet den Weg ins weltliche Leben nicht als Einbahnstraße und betont: "Ich bin diese Kandidatur nicht eingegangen, um mich vom Bistum wegzubewegen."