Vor zwei Jahren hätte sie das noch nicht gekonnt: vor rund 600 Leuten eine lockere Begrüßungsrede halten. Johanna Diel ist nicht aufgeregt. Die Präsidentin des Debattierclubs der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster fühlt sich entspannt, als sie am 16. Juni das Finale der Hochschulmeisterschaften im Debattieren im Hörsaal am Hindenburgplatz eröffnet. Der Grund dafür sei, sagt sie später, dass sie das freie Sprechen regelmäßig in ihrem Club übe: "Das stärkt die Sicherheit enorm!"
Johanna Diel debattiert mit Herzblut, genau wie die 104 Studenten aus ganz Deutschland, im Schnitt 24 Jahre alt, die über drei Regionalturniere in die Endausscheidung des Wettbewerbs gelangt sind. In Zweier-Teams überlegen sie sich schlagende Strategien und Argumente, um das Gegner-Team bei Fragen wie "Sollen die USA in den Iran einmarschieren?" oder "Brauchen wir eine europäische Fußball-Nationalmannschaft?" punktemäßig zu überbieten. Nur sieben Minuten bleiben den Rednern, um die Jury von der Richtigkeit ihres Standpunktes zu überzeugen. Da sind Schlagfertigkeit, eine schnelle Auffassungsgabe und eine gute Portion Selbstbewusstsein gefragt, denn auch für die Vorbereitung des Themas bleiben gerade 15 Minuten Zeit. "Das Tolle daran", meint Johanna Diel, "ist der Adrenalinkick, weil man nie genau weiß, was die Gegnerseite macht."
Debattieren als Sport - so kann man die Meisterschaften sehen. Aber die Studenten lernen dabei: Sie schulen sich in Rhetorik, üben die sachliche Auseinandersetzung mit Themen, gewinnen Schlagfertigkeit und Witz. Denn es muss nicht immer bierernst zugehen beim Debattieren, auch Spaßfragen sind erlaubt. Aber von ziellosen Diskussionen und den Talk-Show-Streitereien des nachmittäglichen Fernsehprogramms unterscheidet sich das Debattieren durch seine Form: Wer debattiert, hat einen Standpunkt eingenommen, den er anderen argumentativ darlegt. Debattenfragen sind Entscheidungsfragen - es geht darum, etwas zu tun oder zu lassen. Sie verlangen also einen Entschluss, ein Pro oder Kontra. Die Kunst des Debattierens besteht darin, auf sein Gegenüber einzugehen, zuzuhören und auf das Gesagte zu reagieren. Zwischenfragen sind deshalb erwünscht, auch im Turnier. Debattieren ist deshalb mehr, als dazustehen und einen Monolog zu halten.
An den alten britischen Universitäten wie Oxford wird die Form der demokratischen Streitkultur seit dem 19. Jahrhundert gepflegt. In Deutschland gibt es die Hochschul-Clubs erst seit rund 15 Jahren, aber die Zahl ihrer Mitglieder wächst. Weil sich die meisten deutschen Clubs an der Debattentradition des britischen Unterhauses, dem "British Parliamentary Style", orientieren, klingt die Themenformulierung wie ein Abstimmungsantrag dort. Sie beginnt mit der Formel "This House would..." oder "This House believes...". Beim Münsteraner Finale lautete das Thema: "Dieses Haus würde die Bundeswehr auch im Inland einsetzen." Was folgte, war eine lebhafte Debatte: Das Regierungsteam eröffnete, indem es diesen Standpunkt zu untermauern versuchte. Die Bundeswehr sei wegen der gestiegenen Terrorismusgefahr durch eine Verfassungsänderung auch im Inneren einzusetzen, so seine Sichtweise. Durchsetzen konnte sich aber das Oppositionsteam aus Jena, das darlegte, warum der Bundeswehreinsatz im Inneren selbst zum Schutz vor Terrorismus nicht sinnvoll sei. Ihr Hauptargument: Terrorismus sei nicht mit Hilfe der Bundeswehr, sondern mit anderen Mitteln zu bekämpfen. Zum Schutz der Bevölkerung stehe die Polizei zur Verfügung. Chefjuror Sebastian Berg folgte dieser Meinung, genau wie die Mehrheit der Jury. Aber die 22-jährige Maika Spilke und der gleichaltrige Mark Hauptmann haben nicht nur kraft ihrer Argumente gewonnen. "Die beiden haben als Team am besten funktioniert", so Berg. Die Vorträge seien aufeinander aufgebaut gewesen.
Neben dem Inhalt bewertet die Jury auch Form und Methode des Vortrags: Spricht der Redner bildhaft, veranschaulicht er, was er sagt? Macht er seinen Standpunkt klar? Sprechen mich sein Auftreten, seine Stimme und Gestik an? Maika Spilke, die neue deutsche Hochschulmeisterin, ist bereits eine geschulte Debattiererin, sie will ihre Fähigkeiten aber noch weiter ausbauen.
Denn die Studentin der Betriebswirtschaftslehre ist überzeugt, dass sie dieses Know-how nicht nur im Studium, sondern auch beruflich weiterbringt. Bei den Hausarbeiten gehe sie strukturierter an die Fragestellung heran. Außerdem sei sie toleranter und differenzierter geworden: "Egal, um welches Thema es geht, seit ich debattiere, betrachte ich immer beide Seiten." Die Universität, meint sie, vermittle diese Kenntnisse nicht: "Wenn wir im Seminar mal diskutieren, dann fachspezifisch, nicht zu allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen."
Und was unterscheidet das Debattieren der Clubs von den Debatten des Deutschen Bundestags? Sebastian Berg sagt, bei den Clubs komme man schneller zur Sache, denn den Rednern stehe weniger Zeit zu. Zudem habe man nur einige Stichworte zur Hand. Der größte Unterschied sei aber, dass die Club-Debattierer versuchten, die Zuhörer mitzureißen. "Im Bundestag ist ja dagegen schon vorher klar, von welcher Seite Applaus zu erwarten ist." Trotz dieser Unterschiede stand der Wettbewerb unter der Schirmherrschaft eines Mitglieds des Deutschen Bundestags, nämlich von Vizepräsident Wolfgang Thierse. Parlamentarischer Streit und Auseinandersetzung, erklärt er, gehörten unbedingt zur Demokratie. "In Parlamenten reden zu können, das ist nicht jedem in die Wiege gelegt, aber man kann es lernen." Sinnvoll ist das allemal, auch wenn man, wie das Jenaer Siegerteam, nicht Berufspolitiker werden will.