Der "Flickenteppich" in der Strafvollzugspraxis der 16 Bundesländer ist allerdings auch ohne Föderalismusreform längst Realität, wie vor kurzem das Verfahren zum Jugendstrafvollzug beim Bundesverfassungsgericht belegte. Der sicherheitspolitische Trend zur Härte gegen Straftäter, aber auch die Sparzwänge der Länderhaushalte haben die Kluft zwischen den Ländern offenbar noch vertieft. So liegt die Gefangenenrate - also die Zahl der inhaftierten Jugendlichen pro 100.000 der 15- bis 25-jährigen Bevölkerung - in Mecklenburg-Vorpommern mit 124 doppelt so hoch wie in Schleswig-Holstein. In Baden-Württemberg beträgt sie 71, in Sachsen-Anhalt 162. Wobei die Kurven teils gegenläufig sind: In Hamburg hat sich die Rate in den vergangenen fünf Jahren um die Hälfte erhöht, in andern Ländern ist sie um mehr als 40 Prozent gesunken.
Ähnlich ist das Bild bei der Gestaltung des Jugendstrafvollzugs. Nach einer Umfrage des Gerichts differieren beispielsweise die Belegungszahlen beim offenen Vollzug zwischen null (Bremen und Saarland) und 17 Prozent (Niedersachsen). Die Ausstattung der Anstalten mit Psychologen und Sozialarbeitern weiche zum Teil "um ein Vielfaches" voneinander ab, schreibt das Gericht. Ähnlich sei es bei Behandlungsangeboten wie Antiaggressivitätstraining oder Programmen für Sexualstraftäter.
Mit dem Übergang der Zuständigkeit auf die Länder wird sich diese Situation verschärfen - das lehrt nach Ansicht des Kölner Kriminologen Michael Walter schon ein Blick in die Geschichte. Bereits zu Bismarcks Zeiten im ausgehenden 19. Jahrhundert seien Pläne zur vermehrten Einführung der Einzelhaft sofort auf den Widerstand der kostenbewussten Bundesstaaten gestoßen. Und die teilweise erfolgreiche Etablierung sozialtherapeutischer Einrichtungen in den 70er- und 80er-Jahren sei dank bundesrechtlicher Vorgaben gelungen - gegen die Länder. Walter: "Die Länder werden immer versuchen, den Vollzug schlicht im Sinne des Einsperrens zu gestalten."
Nach dem Urteil vom 31. Mai, mit dem die Karlsruher Richter eine umfassende gesetzliche Grundlage zum Jugendstrafvollzug angemahnt hatte, haben der Bund sowie Bayern und Baden-Württemberg umgehend erste Entwürfe vorgelegt. Zwar stellen auch die Länder Ziele wie Resozialisierung und Erziehung obenan. Im Detail allerdings zeigt sich, dass sie mit "weichen" Formulierungen Spielraum für kostengünstige Lösungen schaffen. Der Bundesentwurf legt unmissverständlich fest, dass für zwei Drittel der Häftlinge Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden sollen - durchaus konsequent angesichts der Tatsache, dass der weitaus größte Teil der jungen Häftlinge über keinerlei Schul- oder Ausbildungsabschluss verfügt. Die Länder bekunden zwar ebenfalls ihren guten Willen, lassen es aber an Verbindlichkeit fehlen: Der Gefangene "soll" Gelegenheit zur Ausbildung haben. Juristen wissen: Zwischen "soll" und "muss" liegen Welten, wenn man einen Anspruch gerichtlich durchsetzen will.
Ähnlich ist es bei der Wohngruppe, einer Einrichtung, die von Vollzugsexperten dringend empfohlen wird. Der Bund erklärt sie zum Regelfall und rät sogar zu einer Größe von maximal acht Personen. Nach den Länderplänen "können" oder "sollen" Gefangene in Wohngruppen untergebracht werden - deren Größe unbestimmt bleibt. Der Kriminologe Walter warnt schon jetzt, dass womöglich Abteilungen mit 40 Inhaftierten der Kosmetik halber zu Wohngruppen umdeklariert werden.
Und der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) macht kein Hehl daraus, dass es eben auch ums Geld geht. Der Vorschlag des Bundes gehe von unrealistischen Wunschvorstellungen aus, die einfach nicht zu bezahlen seien. "Natürlich ist es für den Bund einfach, das Geld anderer Leute ausgeben zu wollen", sagte er bei der Vorstellung seines Entwurfs.
Sind das also doch Indizien für einen drohenden "Wettbewerb der Schäbigkeit"? Sollte es dazu kommen, würde er zumindest an Grenzen stoßen - gezogen von den hohen Richtern in Karlsruhe. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, der sonst gern seine Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber betont, hat für die Neuregelung des Jugendstrafvollzugs ungewöhnlich detailreiche Vorgaben gemacht. Er lässt es nicht mit allgemeinen Ausführungen zur Resozialisierung bewenden, sondern hebt beispielsweise die Bedeutung der Familienbeziehungen für ein straffreies Leben in Freiheit hervor - ein wichtiges Argument für eine Ausweitung der Besuchszeiten, die bisher aus Kostengründen oftmals knapp gehalten werden.
Überdies mahnt er Kontaktmöglichkeiten innerhalb der Anstalt an, die dem "positiven sozialen Lernen" dienen können. "Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist dazu die Unterbringung in kleineren Wohngruppen, differenziert nach Alter, Strafzeit und Straftaten - etwa gesonderte Unterbringung von Gewalt- und Sexualstraftätern mit spezifischen Betreuungsmöglichkeiten - besonders geeignet", heißt es in dem Urteil.
Und um keine Zweifel aufkommen zu lassen, spricht er auch das Thema Geld an: "Der Staat muss den Strafvollzug so ausstatten, wie es zur Realisierung des Vollzugsziels erforderlich ist" - und er fügt noch eine ganze Kette von Einzelpunkten an: nicht nur Ausbildung und Unterbringung, sondern auch pädagogische und therapeutische Betreuung sowie die Vorbereitung der Entlassung und die damit verzahnte Nachsorge.
Zwar gilt das Urteil nur für den Jugendstrafvollzug. Doch schon seit langem haben die Karlsruher Richter ein besonderes Augenmerk auch auf den Erwachsenenvollzug. Vor Jahren hat das Gericht für eine höhere Entlohnung arbeitender Gefangener gesorgt; die beengte Unterbringung mehrerer Gefangener in winzigen Zellen hat es als menschenunwürdig beanstandet; bei überlanger Untersuchungshaft haben die Richter bisweilen äußerst unwirsch reagiert und Häftlinge kurzerhand auf freien Fuß gesetzt; und selbst bei vermeintlichen Bagatellen wie einem Antrag auf Verlegung in eine heimatnahe Haftanstalt oder einer Beschwerde gegen ein Fernsehverbot waren sie sich nicht zu schade, die Gunst des höchstrichterlichen Rechtsschutzes Kriminellen zugute kommen zu lassen. Wer aus diesem "Wettbewerb der Schäbigkeit" als Sieger hervorgehen möchte, dürfte deshalb spätestens in Karlsruhe mit einer Niederlage zu rechnen haben.