So betrachtet, hat Anfang Juni mitten im Zentrum Berlins ein riesiges Geschichtenkonvolut seine Pforten geöffnet: Die lang erwartete und mehrmals verschobene Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums. Im Zeughaus, dem am Boulevard Unter den Linden letzten architektonischen Zeugnis des preußischen Barockmeisters Andreas Schlüter, kann sich nun eine Nation auf die Suche nach sich selbst machen - eine, die sich zuletzt immer wieder selbst den Vorwurf gemacht hatte, an historischer Amnesie zu leiden.
Der Weg dorthin war ein nicht einfaches Unterfangen. Besonders die Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus hat Vorurteile freigesetzt. Pläne zu einem deutschen Geschichtsmuseum wurden immer wieder als Geklimper auf der Klaviatur des Nationalismus betrachtet. Für viele gilt noch immer: Nie ist Deutschland so unerträglich gewesen, wie in jenen Momenten, in denen es zu sich selbst kam. Und so ist das 1987 auf Initiative von Altkanzler Helmut Kohl gegründete Deutsche Historische Museum lange Zeit ein mit Argwohn beäugtes Projekt gewesen. Zu Unrecht, wie sowohl der Gründungsdirektor
Ottomeyer in den vergangenen Jahren bewiesen haben. Mit hervorragenden Sonderausstellungen zu Themen wie Migration, Holocaust oder die europäische Idee hat dieses deutsche Geschichtsmuseum längst bewiesen, dass es offen und vorurteilsfrei große Stoffe bewältigen kann. Wer hinter den aufwendig sanierten Fassaden des Zeughauses wilhelminischen Geist oder Preußens Gloria befürchtete, der hat sich geirrt.
Und doch: Die Eröffnung der zentralen Dauerausstellung zur Deutschen Geschichte - der nationale Grand Parcours - ist mit gemischten Gefühlen erwartet worden. Mit dem großen Gerede um Leitkultur, Werte und "Du bist Deutschland" ist die Republik in den vergangenen Monaten kräftig durchgeschüttelt worden. Auch wenn pünktlich zum WM-Start allerorten schwarz-rot-goldene Fahnen wehen: Die neue Farbenfreude steht eher für "Klinsi" und dessen Viererketten, denn für Paulskirche und Wartburgfest. Gespannt also wartete man darauf, welche Geschichte die "Chefchronisten" der Nation den Deutschen von sich selbst erzählen könnten.
Nun, nach einem ersten Rundgang, fällt die Antwort erfrischend aus. Die mehr als 8.000 historischen Exponate, anhand derer der Besucher durch die zwei weiträumigen Etagen der Ausstellung geleitet wird, erstellen weder große Narrative, noch vermitteln sie eindeutige Kausalzusammenhänge. Statt auf strittige Thesen hat das Team um Hans Ottomeyer auf behutsame Chronologien gesetzt, statt auf einseitige Nationalgeschichte, auf die Geschichten eines Landstrichs im Herzen Europas. Eines nämlich streicht die neue Dauerausstellung kategorisch heraus: Das, was man Deutschland nennt, ist schon immer nur im Kontext seiner Nachbarn zu verstehen gewesen. Eingebettet in gleiche Symbolwelten, gleiche Erzählstränge und gleiche Herrschaftsdynastien reicht das europäische Bewusstsein bis in die Antike zurück. Ob das Reich der Franken oder die Befreiungskriege: Stets verweist man in der Ausstellung weit über deutsche Grenzen hinaus.
So sind 7.000 Quadratmeter Zeigelust gefüllt worden. Innerhalb von sechs Jahren haben die Kuratoren eine Ausstellung konzipiert, die Geschichte anhand von Objekten und Zeugnissen erlebbar macht. Der Parcours startet im ersten nachchristlichen Jahrhundert - zu einer Zeit, in der von Deutschland noch lange nicht die Rede sein konnte. Über Varus-Schlacht und Christianisierung führt der Weg an unzähligen kleinen und großen Weltminuten vorbei, bis er in der unmittelbaren Gegenwart des wiedervereinigten Deutschlands einmündet. Natürlich: Eine solche Ausstellung kann immer nur Hauptwege der Geschichte nachzeichnen. Während zahlreicher Epochen - besonders ab dem langen 19. Jahrhundert - jedoch sind deutsche Hauptwege auch zu deutschen Irr- und Abwegen geworden. Nicht verwunderlich, dass die Ausstellungsmacher sich daher dazu entschlossen haben, den zwölf Jahren Nationalsozialismus nebst Vor- und Nachgeschichte den meisten Platz zuzugestehen.
Während also im zweiten Stock des Hauses die ers-ten 1.900 Jahre deutscher Geschichte abgeschritten und gewürdigt werden können, beherbergt das Erdgeschoss mit dem 20. Jahrhundert nicht nur metaphorisch die Niederungen. An Stellwänden und Vitrinen ist da unser Vorleben aufgebahrt, als wäre es eine überdimensionale Schmetterlingssammlung. Verbunden sind die unzähligen Objekte über 27 Informationssäulen, die mittels Karten, Grafik- und Texttafeln Orientierung im Dickicht des Historiendschungels schaffen.
Im Zentrum aber stehen stets die Exponate selbst. Sie reichen von Urkunden aus der Karolingerzeit, über ein kunsthistorisch bedeutsames Luther-Porträt von Lucas Cranach, bis hin zu kompletten Automobilen oder Geschützen aus dem Ersten Weltkrieg. Dort, wo Objekte selbst nicht zur Verfügung standen, hat der studierte Kunsthistoriker Hans Ottomeyer immer wieder auf die Anschauungskraft der bildenden Kunst gesetzt. Das vielleicht eindrucksvollste Objekt in diesem Zusammenhang: Ein fiktives Porträt Karls des Großen aus der Werkstatt Albrecht Dürers. Dieses zeigt nicht nur das Antlitz Karls, es vermittelt zudem einen großartigen Eindruck von der lang umkämpften deutschen Kaiserkrone, die der Frankenkönig auf diesem Gemälde auf seinem Haupte trägt. Eigentlich ist dieses wichtigste Symbol des Heiligen Römischen Reichs nur in Wien und Aachen zu besichtigen. Dieser Kunstkniff aber verankert das Machtemblem auch in der Berliner Ausstellung.
Ein anderes imposantes Objekt, an dem Macht und Ohmacht klebt wie Staub aus ungezählten Jahren, ist mit dem Hut und dem Degen Napoleons zu besichtigen. Auf seiner Flucht von den Schlachtfeldern Waterloos soll der französische Kaiser dieses historische Handgepäck schlicht in seiner Kutsche vergessen haben.
Spätestens hier also ist der Besucher wieder bei den kleinen unterhaltsamen Klatschgeschichten von der deutschen Kaffeetafel angelangt. Es geht um Erzählen und Wiedererzählen; um Episoden, die immer wieder neu zu einem Ganzen zusammengesetzt werden wollen. Eine gelungene Ausstellung zur Deutschen Geschichte ist so letztlich immer wie ihr Thema selbst: Ein Gemälde, das Fragen aufwirft, Eindeutigkeiten zeigt und gleichzeitig manche Antwort im Dunkeln lässt.
Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums ist täglich von 10 - 18 Uhr geöffnet. Eintritt 4 Euro. Jugendliche bis 18 Jahre haben freien Eintritt. Das DHM befindet sich Unter den Linden 2.