Brüssel - ein demokratischer Moloch. In regelmäßigen Abständen versucht die Kommission, dieses Image loszuwerden. Schon die Mannschaft unter Romano Prodi wollte überflüssige Vorschriften streichen und wichtige Gesetze vereinfachen. Die EU-Regierungen wurden aufgefordert, sich am Großreinemachen zu beteiligen. Im Juni 2004 beklagte die Kommission in einem Arbeitsdokument, dieser Appell sei weder bei den anderen EU-Institutionen noch bei den einzelnen Mitgliedstaaten auf große Reaktion gestoßen. Das ist nicht verwunderlich, denn die oft widerstreitenden Interessen der Mitgliedsländer einerseits und von Rat, Kommission und Parlament auf der anderen Seite führen zu Konflikten, die durch Gesetze und Verordnungen kanalisiert werden müssen. Hinzu kommt, dass der EU-Haushalt als reiner Subventionshaushalt anfällig ist für Betrügereien und Misswirt-schaft. Als die Kommission unter Prodis Vorgänger
Jacques Santer 1999 über finanzielle Unregelmäßigkeiten gestolpert war, führte das zu neuen Gesetzen, mehr Kontrolle unter weiter wuchernder Bürokratie.
Schon jetzt ist abzusehen, dass auch die im September 2005 von Industriekommissar Günter Verheugen gestartete neue Initiative den Moloch nicht zähmen kann. 222 grundlegende Rechtsvorschriften und mehr als 1.400 dazugehörige Bestimmungen sollen so durchforstet werden. In einem ersten Schritt hatte Verheugens Abteilung angekündigt, 68 der derzeit in Arbeit befindlichen Gesetzesvorschläge komplett zurückzuziehen.
Bei näherer Betrachtung stellte sich allerdings heraus, dass viele davon sich auf die Beitrittspartnerschaft bezogen und durch den Beitritt von zehn der zwölf damaligen Kandidaten zum 1. Mai 2004 ohnehin überflüssig geworden waren. Am Ende konnte die Kommission für ihre neue Schlankheitsstrategie nur zwei echte Gesetzesprojekte als Belege anführen: Sie zog den Vorschlag zurück, die Fahrvorschriften für Lkw zu harmonisieren und damit indirekt das deutsche Wochenend-Fahrverbot für Lkw abzuschaffen. Und sie verabschiedete sich von der im Volksmund als "Sonnenschein-Richtlinie" verspotteten Vorschrift, dass Arbeitgeber ihre Beschäftigten über die Gefahren der natürlichen Strahlung aufklären müssen. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie die Medien das Klischee von der Brüsseler Regelungswut gerne ausschmücken und wie sowohl die Kommission als auch das Parlament aus Sorge vor weiteren Imageschäden zurückweichen. Denn Fachleute sind sich einig, dass übermäßige Sonneneinstrahlung in manchen Berufen, zum Beispiel auf dem Bau, tatsächlich ein bedeutendes gesundheitliches Berufsrisiko darstellt. Dennoch stimmte die Mehrheit der EU-Abgeordneten gegen die Verankerung der Schutz- und Beratungspflicht - unter ausdrücklichem Hinweis auf die ohnehin schon antieuropäisch aufgeheizte Stimmung daheim im Wahlkreis. Das neue Europaparlament habe ein anderes Rollenverständnis als seine Vorgänger, glaubt der auf EU-Politik spezialisierte Speyerer Verwaltungsfachmann Thomas König. Während sich die Abgeordneten früher in erster Linie als Verbraucherschützer begriffen hätten, seien sie heute Vertreter ihrer jeweiligen Interessenverbände. Gesetzgebung werde zunehmend als Innovations- und Wachstumshemmnis wahrgenommen. "Die Kommission spielt mit. Sobald sie Widerstand spürt, zieht sie ihren Vorstoß zurück."
König hat diese Entwicklung statistisch nachgezeichnet. Bis zur Vollendung des Binnenmarktes Mitte der 90er-Jahre habe die Kommission pro Jahr im Schnitt 180 Verordnungen beschlossen. Seither gehe die Zahl deutlich zurück. Zwar bleibt die Zahl der Richtlinien konstant zwischen 40 und 60 pro Jahr. Anders als die sofort EU-weit geltenden Verordnungen sind sie aber nur Rahmengesetze und müssen von den Mitgliedstaaten in nationale Vorschriften übertragen werden. Dieser Prozess läuft schleppend und selten fristgerecht. Für König zeigen die Zahlen, dass insgesamt Brüssels Einfluss zurückgeht und wieder mehr Macht zu den Nationalstaaten zurückwandert.
Ein solcher Zickzack-Kurs, wo der Gesetzgeber weniger den politischen Erfordernissen als den Erwartungen der Interessenvertreter folge, führe aber keineswegs zu handwerklich sauberen Ergebnissen. "Jeder ruft nach besseren Gesetzen, tatsächlich aber werden die Texte immer vieldeutiger", klagt König. Das bestätigen auch Juristen aus der Kommission und den Mitgliedstaaten. Die ebenfalls in den Boulevardblättern zu Ruhm gelangte Dienstleistungsrichtlinie ist eines ihrer Lieblingsbeispiele. Nach lautstarken Protesten von Gewerkschaften und einzelnen Berufsverbänden wie Notaren oder Pflegepersonal sind die ursprünglich ein-deutigen und leicht umsetzbaren Grundregeln durch eine lange Liste von Ausnahmen ersetzt worden. Viele Klauseln sind so unscharf gefasst, dass die Gerichte wohl noch mehr als bisher damit befasst sein werden, die Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt durchzusetzen. Nach Ansicht von Insidern hat die EU-Kommission bei diesem Gesetz das Pferd vom Schwanz aufgezäumt. Statt zunächst in einer breit angelegten Anhörungsphase im Internet die wunden Punkte der Interessenverbände ausfindig zu machen und mit einem überarbeiteten Text in den Gesetzgebungsprozess zu gehen, wurde hinterher nachgebessert. Das Ergebnis, so ein Ratsmitarbeiter, sei "ein abschreckendes Beispiel, wie bessere Rechtsetzung nicht funktioniert." Vorbildlich sei dagegen die Anhörungsphase zur geplanten Chemierichtlinie REACH verlaufen. "Solche Anhörungen helfen den Kommissionsbeamten, im Raumschiff Brüssel die Bodenhaftung zu behalten", glaubt der Jurist.
Von der von Günter Verheugen mit Vorschusslorbeeren bedachten neuen Prozedur der "Rechtsfolgeabschätzung" hingegen König nicht viel. Das führe zu noch mehr bürokratischem Aufwand und bringe kaum neue Erkenntnisse. Denn die Folgekosten einer neuen EU-Richtlinie für die Praxis ließen sich erst abschätzen, wenn sie in den Mitgliedsländern in Gesetze gegossen sei und Rechtskraft erlangt habe. Beispielhaft dafür, so König, sei die Debatte um die Antidiskriminierungsrichtlinie, denn "oft entsteht die überbordende Bürokratie gar nicht in Brüssel, sondern bei der Umsetzung im Mitgliedstaat".