Stalin-Biografie
Simon Sebag Montefiore hat seine glänzende Charakterstudie vollendet
Am Mittwoch, dem 13. Juni 1907 vollführt vormittags ein schneidiger, schnurrbärtiger Kavalleriehauptmann in Stiefeln und Reit-hosen Kunststücke auf dem brodelnden, exotischen Hauptplatz von Tiflis. Er scherzt mit zwei hübschen, gut gekleideten, georgischen Mädchen, die farbenprächtige Sonnenschirme rotieren lassen - während sie hin und wieder verstohlen nach den in ihren Kleidern verborgenen Pistolen tasten. In einer berüchtigten Schenke am Markt besetzt eine Gruppe schwer bewaffneter Gangster die Kellerbar. Sie laden die Passanten fröhlich ein, mit ihnen zu trinken. Alle warten darauf, dass Josef Dschugaschwili, damals 29 Jahre alt, eine "Großtat" vollbringt: den Überfall auf die mit Geld beladene Postkutsche, die kurz darauf vor der Staatsbank hält.
Schüsse peitschen, Granaten explodieren und richten auf dem Platz ein unbeschreibliches Blutbad an. Letztlich misslingt der Geldraub, der die Finanzierung der Revolution sichern sollte. Aber "so farbig" beginnt an diesem Tag die von Simon Sebag Montefiori beschriebene vorrevolutionäre Laufbahn eines Mannes, der das "Zeitalter der Extreme" entscheidend mitgestaltet hat.
Montefiore hat nach seinem fulminanten Werk über Angst und Terror "Am Hof des roten Zaren" erneut auf die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs reich sprudelnde Quelle an Dokumenten - in diesem Fall überwiegend aus georgischen Archiven - zugreifen können. So entstand ein Porträt des jungen Stalin und seiner mörderischen Spießgesellen, wie es ein Kriminalroman atmosphärischer kaum vermitteln könnte.
In der Schule gilt der junge Josef als intelligent und wissbegierig, aus dem Priesterseminar fliegt er raus. Bevor er ein Gangster wird, versucht er sich, durchaus romantisch veranlagt, auch schon einmal als Dichter. Auf Frauen wirkt er attraktiv, gilt als charismatisch und humorvoll, aber es wird ihm auch eine finstere Gemütsart bescheinigt - "ein seltsamer Georgier mit nördlicher Kälte". Spöttisch könnte man sagen: Vieles, was wir über Stalin wissen, stimmt - aber auch das Gegenteil ist richtig.
Montefiore hebt hervor, dass Leistungen und Verbrechen dieses vielseitigen Mannes in den Jahren vor und für die Revolution viel umfangreicher gewesen seien, als man geahnt habe. Zum ersten Mal lasse sich sein politisches Banditentum, das er später nicht öffentlich gemacht haben wollte, dokumentieren - eine Rolle, die Lenin sehr beeindruckt hat. So wird aus dem jungen "Stählernen" der Organisator, Vollstrecker und Meister in der Unterwanderung der zaristischen Sicherheitsdienste.
Unbedarft war dieser Stalin schon als junger Mann nicht. Er imponiert Lenin, der sich später vergeblich gegen Stalin als Vollstrecker seines Willens wehrt, als unabhängiger und energischer Redakteur und Journalist, der sich nie scheute, auch ihm entgegenzutreten und zu widersprechen. Er war, so der Autor, als Folge der außergewöhnlichen Verbindung von Erziehung (im Priesterseminar) und Straßengewalt in einer seltenen Verbindung sowohl "Intelligenzler" als auch Mörder. Und nur so erklärt sich, dass der vermeintlich "Mittelmäßige" dann später die Macht ergreifen, begabte Politiker wie Trotzki, Bucharin und Lenin an die Wand spielen und sein Programm der Industrialisierung, seinen brutalen Krieg gegen die Bauernschaft und den furchtbaren Großen Terror entfalten konnte.
Die Entwicklung von Stalins Charakter ist das Thema dieses ungewöhnlichen Buches, dem sich Montefiore bei seinen zehn Jahre dauernden Recherchen in neun Ländern und dreiundzwanzig Städten - von den Archiven in Moskau angefangen über die von Tiflis, St. Petersburg, Wolodga, Helsinki und Krakau bis nach Stanford - gewidmet hat. Vieles bisher Unerklärliches in Stalins Leben kommt ans Licht und damit der Charakter eines Despoten, dessen Herrschaftsverständnis und -praxis schon in seinen Jugendjahren auf der furchtbaren Maxime beruhte: Ein Mensch - ein Problem. Kein Mensch - kein Problem.
Der junge Stalin. Das frühe Leben des Diktators 1878 -1917.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 537 S., 24,90 ¤