Abitur
Um das Abitur nach 12 Schuljahren ist eine bundesweite Debatte entbrannt. Vor allem Eltern wehren sich. In den ostdeutschen Bundesländern kann man die Aufregung nicht nachvollziehen.
Der Streit um die so genannte G8-Reformen an deutschen Gymnasien wird schon lange geführt - und erbittert ausgetragen. Einen prägnanten Eindruck davon, welche Positionen sich dabei gegenüberstehen, vermittelt ein Blick auf die Homepage der Dreieichschule in Langen im Landkreis Offenbach.
Dort sind Leserbriefe aus der "Frankfurter Rundschau" zur umstrittenen Verkürzung der Abiturdauer eingestellt: Während sich auf der einen Seite Eltern wie der Frankfurter Eberhard Entner darüber beklagen, sein zwölfjähriger Sohn habe mittlerweile eine mehr als 40-Stunden-Woche und finde kaum noch Zeit für musikalische oder sportliche Freizeitaktivitäten, stellt Dieter Fleischhauer fest, man solle auf die "mitfühlende Gefühlsduselei" verzichten. Er habe selbst in den 50er-Jahren Abitur nach zwölf Jahren gemacht und dabei wöchentlich bis zu 36 Stunden Unterricht gehabt.
In der Tat ist um die Frage, ob und wie Schüler in zwölf Jahren zur allgemeinen Hochschulreife gelangen sollen, ein wahrer Kulturkampf entbrannt. In den meisten Bundesländern wurde zwischen 2002 und 2007 die Schulzeit bis zum Abitur um ein Jahr vorgezogen. Rheinland-Pfalz wird mit dem Schuljahr 2008/09 die ersten Gymnasien im G8-Modus starten, und die Schüler in Thüringen und Sachsen machen ohnehin schon immer nach zwölf Jahren ihren Abschluss.
Von dort blickt man ein wenig verständnislos auf die Auseinandersetzungen zwischen Elternschaft und Kultusministerien, die insbesondere im hessischen und hamburgischen Wahlkampf tobten. Dirk Reelfs, Sprecher des Staatsministeriums in Dresden, hält es für "einen großen Vorteil, dass wir nie das Abitur mit 13 Jahren gehabt haben". In Sachsen sei der ganze G8-Streit kein Thema. "Die Eltern kennen und wollen das nur so."
Ein Vorteil im Osten: Viele Schulen verfügen über die Möglichkeit, ein Mittagessen anzubieten und die Kinder nachmittags auch bei den Hausaufgaben zu betreuen, während man in den alten Ländern lange dem Modell der traditionellen Halbtagsschule anhing. Das aber stieß in neuen Ländern auf wenig Begeisterung. Sachsen-Anhalt kam nach einer Phase des 13-jährigen Abiturs zwischen 2001 und 2007 wieder zur kürzeren Schulzeit zurück, weil man, so Ministeriumssprecher Jens Antefuhr, erkannt habe, "dass es anders Quatsch ist".
Sein Chef, Kultusminister Winfried Willems (CDU) gibt zu, dass man den Kindern mit einer hohen Zahl von Wochenstunden "einiges zugemutet habe". Weil man ihnen mit Jammerei aber auch nicht helfe, habe man den Schulen den Freiraum gegeben, sich nicht sklavisch an jeden Lehrplan zu halten und etwa Hausaufgaben auf das unbedingt Nötige zu reduzieren. Obwohl man die Mittel aus dem Bundesprogramm zum Ausbau der Ganztagsschulen angefordert habe, gebe es auch in Sachsen-Anhalt nicht überall Ganztagsschulen mit Ruheräumen und pädagogischer Hausaufgabenbetreung. Antefuhr: "Das braucht man nicht - wenn man geschickt ist, bekommt man die Verkürzung auch so hin." Geschickt oder nicht: Im Westen tun sich vor allem die Eltern mit der Umstellung schwer. Zahlreiche G8-Elterninitiativen haben sich gegründet, die eine bessere personelle Ausstattung an den Schulen und Investitionen in die Infrastruktur - eben in Mensen und Ruheräume - fordern.
Darauf legt man insbesondere in Rheinland-Pfalz viel Wert. "Das Saarland hat schon 2001 flächendeckend das zwölfjährige Abitur eingeführt und dann Probleme mit den Eltern bekommen. Deshalb sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass die Verkürzung nur mit echten Ganztagsschulen funktioniert. Dort findet nicht nur einfach Unterricht am Nachmittag statt, es gibt auch Aktivitäten im musischen und sportlichen Bereich. Herkömmliche Hausaufgaben haben wir nicht mehr, uns geht es um betreutes Wiederholen und Üben", berichtet Wolf-Jürgen Karle, Pressesprecher im Kultusministerium. Weil die Pfälzer die Eltern in kein Modell zwingen wollen, gibt es ab 2008 die Möglichkeit, dass Schüler wie bislang mit der Mainzer Studienstufe das Abitur erst nach 12 3/4 Jahren ablegen oder auf 12 Jahre verkürzen." Positiver Effekt des sanften Übergangs: "Bis jetzt gibt es im Grunde nur Zustimmung."
Viele Eltern, deren Kinder das Abitur nun schneller ablegen werden als bei der Einschulung geplant, befürchten auch, dass eine kürzere Zeit bis zum Abitur Einbußen in der Bildung ihres Nachwuchses mit sich bringt. Das allerdings schließt die Kultusministerkonferenz aus. Andrea Schwärmer, Referentin bei der KMK, betont, es gebe mittlerweile in fast 40 Fächern bundeseinheitliche Prüfungsanforderungen. "Natürlich ist damit nicht die Gestaltung des Unterrichts festgelegt. Da wir einen Bildungsföderalismus haben, hat ja ohnehin jedes Land eigene Lehrpläne. Aber auch wenn nicht alle auf dem gleichen Weg ins Ziel kommen: Formal sind die Standards für das Abitur überall die selben."
Formal wissen auch die Eltern, dass sie an G8 wohl nicht mehr vorbeikommen. Sie fordern, dass nach der teilweise eher hektisch vollzogenen Reform nun ausgereifte Konzepte folgen. Doch Umdenken müssen nicht nur die Beamten in den Ministerien. Auch die Familien werden lernen müssen, dass ein Schultag, der bis zum Nachmittag dauert, nicht per se von Nachteil ist. An schnelle Perspektivenwechsel glaubt Andrea Schwärmer dabei nicht: "Das ist ein Prozess, der sich noch jahrelang hinziehen wird."