Romane
Die lesenswerte Rückkehr der Politik in die Literatur
Eine "Repolitisierung" in der Belletristik hat Ulrich Greiner, Literaturchef der Wochenzeitung "Die Zeit", mit Blick auf den Buchmarkt des vergangenen Jahres ausgemacht. Der Mann muss es wissen, schließlich führt er den Vorsitz jener 15-köpfigen Jury, die über die Vergabe des "Preises der Leipziger Buchmesse" 2008 entscheidet.
Zwei deutsche Autoren, die diese Beobachtung eindrucksvoll und auf hohem Niveau mit ihren neuesten Romanen belegen, sind der Journalist Dirk Kurbjuweit und der Schriftsteller Michael Kumpfmüller.
Kurbjuweit, hauptberuflich Leiter des Hauptstadtbüros des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", inszeniert mit "Nicht die ganze Wahrheit" Kabale und Liebe in Zeiten der rot-grünen Koalition. Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer spielen ihren Part. Nicht namentlich, aber der zigarrenrauchende Kanzler und Automann ist ebenso eindeutig zu identifizieren wie der vom Abnehmwahn getriebene Außenminister, der mit sorgenzerfurchter Stirn den Journalisten die angespannte Weltlage in den Block diktiert. Doch sie bleiben Randfiguren. Im Mittelpunkt steht ein Privatdetektiv - zugleich der Ich-Erzähler des Romans - , der den heiklen Auftrag annimmt, den SPD-Partei- und Fraktionschef Leo Schilf einer Liebschaft mit der jungen Abgeordneten Anna Tauert zu überführen. Man sollte sich nicht mühen, diese beiden Charaktere einer konkreten Politikergestalt zuzuordnen. Sie vereinen Charaktereigenschaften, die sich aber unschwer den bekannten Gesichtern der Berliner Republik zuordnen lassen. Er, der abgeklärte und gewiefte Politprofi. Sie, die junge Rebellin, die ihre Ideale nicht der Karriere opfern will. Diese Konstellation bietet genügend Zündstoff für die heimliche Liebe, als Anna partout nicht das neue Zahnersatzgesetz mittragen will - die Agenda 2010 lässt grüßen.
Michael Kumpfmüllers "Nachricht an alle" ist ebenso stark von den rot-grünen Jahren geprägt. Auch wenn der Berliner Schriftsteller die Handlung seines Romans zeitlich in die nähere Zukunft und örtlich in ein nicht genanntes europäisches Land verlegt. Während Kurbjuweit bei der Beschreibung seiner Hauptfiguren durch Liebe fürs Detail und mit exakter Beobachtungsgabe glänzt, interessiert sich Kumpfmüller deutlich stärker für das große Ganze. Er inszeniert eine Gesellschaft, die zu explodieren droht. Dabei hat der Autor auf so ziemlich jede politische Entwicklung seit dem Terror des 11. Septembers zurückgegriffen. Sozialabbau und Integrationsprobleme von Ausländern, die brennenden Vorstädte von Paris, der Anti-Terror-Kampf, die Überalterung der Gesellschaft. Jeden Konflikt greift er auf, spitzt ihn zu, erzählt ihn in die Zukunft weiter. Das alles wirkt sehr düster und bedrohlich, aber durchaus realistisch.
Doch auch er zeigt uns die Politik(er) von der privaten Seite. Seine Hauptfigur, der Innenminister einer linken Regierung, ähnelt seinem Kollegen Leo Schilf aus Kurbjuweits Werk. Irgendwie eine charmante Mischung aus Otto Schily, Oskar Lafontaine und Horst Seehofer. Auch er gibt den abgeklärten Vollprofi. Zumindest an der Oberfläche. Den Mann darunter zeigt uns Kumpfmüller, wenn er dessen Tochter in einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen lässt, wenn er ihn ausgerechnet in eine Affäre mit einer Journalistin treibt.
Und für beide Romane gilt gleichermaßen: Unbedingt lesen!
Nicht die ganze Wahrheit. Roman.
Nagel & Kimche, München 2008; 220 S., 19,90 ¤
Nachricht an alle. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008; 383 S., 19,95 ¤