Zeitenwende
Jan Roß glaubt an den Niedergang des Westens - und dann doch wieder nicht
Im Sommer 1989 vertrat Francis Fukuyama die These, wonach mit der liberalen Demokratie - nach der Niederlage von Nationalsozialismus und Kommunismus - die ideologischen Auseinandersetzungen an ihr Ende gelangt seien. Er sprach vom "Ende der Geschichte", da sich keine bessere Gesellschaftsform mehr realisieren lasse. Schon damals war die Argumentation fragwürdig. Dann kam der 11. September und mit ihm eine neue Epoche.
Seither rätseln wir über die Bedeutung dieser Zeitenwende. In diese Diskussion greift Jan Roß ein. "Der Titel, unter dem das beginnende 21. Jahrhundert steht", schreibt er, "lautet weder ‚Krieg gegen den Terror' oder ‚Kampf mit dem Islam' noch ‚amerikanische Weltherrschaft'. Er lautet: ‚Niedergang des Westens'." Zu Recht konstatiert der Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", die Annahme vom Sieg der westlichen Prinzipien nach 1989 hat sich als Illusion erwiesen. Dabei unterschieden sich die Ansätze der Amerikaner und der Europäer weniger in der Zielsetzung als im Einsatz der Mittel. Europa vertrat ebenfalls einen westlichen Universalismus, aber einen mit Weichzeichner präsentierten. Doch die Vereinigten Staaten waren erst recht nicht erfolgreich: "Der Feldzug nach Bagdad hat die Idee der humanitären Intervention diskreditiert" - mit weitreichenden Konsequenzen. Die USA stecken mitten in einer massiven Vertrauens- und Legitimitätskrise.
Zudem ist der Westen durch den Aufstieg der neuen Weltmächte aus Asien herausgefordert. China wird zur "Fabrik der Welt". Roß verweist darauf, dass das Reich der Mitte "inzwischen an einem Tag mehr Waren ausführt als im gesamten Jahr 1978"! In Afrika konnte China seinen Einfluss kontinuierlich steigern. Seine Export-Import-Bank vergibt dort mittlerweile mehr Kredite als die Weltbank.
Auch Indien erlebt einen Boom. Es profitiert von einer vitalen Geistestradition und Abermillionen englischsprechender Menschen, die weltweit Serviceleistungen wie Buchhaltung oder Kundenberatung übernehmen. Die Telefonvermittlung von General Motors ist nicht etwa in Detroit, sondern längst in Bombay. Auch politisch beanspruchen die aufstrebenden Mächte Asiens mehr Mitsprache und treten entsprechend selbstbewusst auf. Der Macht- und Bedeutungsverlust des Westens offenbart sich Roß zufolge als "schleichende Revolution". Wir würden nicht - wie vom radikalen Islam - attackiert, sondern - bisweilen viel schlimmer - immer öfter zum Zuschauer degradiert.
Es gibt in der Tat manche Belege für Roß' These vom sinkenden Einfluss des Westens, aber kaum in der von ihm behaupteten Dimension. Wenn er den Westen als eine "privilegierte Klasse von gestern" bezeichnet, schießt er weit über das Ziel hinaus. Dass Russland und China wieder verstärkt versuchen, den USA Paroli zu bieten, ist nichts Neues, sondern war bis 1990 gang und gäbe. Insofern erleben wir eher eine Normalisierung. Und weshalb soll die Globalisierung für den Westen "unweigerlich zu seinem relativen Abstieg" führen? Deutschland gehört beispielsweise als Exportnation zu den Profiteuren dieser Entwicklung. Dass bei uns in den vergangenen drei Jahren die Zahl der Arbeitslosen um 1,6 Millionen gesenkt werden konnte, ist auch der Globalisierung geschuldet.
Am Ende scheint Roß seiner These selbst nicht zu trauen. Er führt zahlreiche Schwächen der westlichen Rivalen an wie die mangelnde Legitimation des politischen Systems und die riesigen Umweltprobleme in China, auch die Armut und die hohe An- alphabetenrate (über 30 Prozent) in Indien. Weder Russland noch der Islam stellten einen ernstzunehmenden Gegenentwurf dar. Darüber hinaus benennt der Verfasser viele Gründe für die weiter geltende Anziehungskraft des Westens: Demokratie, Freiheit oder die Aussicht auf ökonomische Prosperität. "Hier liegt", betont Roß, "das zentrale Paradox der gegenwärtigen Weltlage: Der Westen wird schwächer, aber seine Ideen bleiben ohne prinzipielle Herausforderung und Alternative."
Und was ist zu tun? Roß macht sich zum Fürsprecher eines "aufgeklärten Glaubens": "Die katholische Vision von der Einheit des Menschengeschlechts in der Vielfalt seiner historischen Gestalten ist der Versuch eines dritten Weges." Schließlich: "Irgendwo zwischen Washington und Rom liegt noch immer ein Gravitationszentrum der Humanität, und seine Kraft hat nicht zu wirken aufgehört." Das sind mutige Sätze, für die der "Zeit"-Redakteur gehörig Prügel einstecken wird. Aber ist mit ihnen Realpolitik zu betreiben? Wird Europa so nicht erst recht zu einem zahnlosen Tiger? Und kann auf diese Weise der geballten Macht Chinas, Indiens, Russlands und der islamischen Staaten begegnet werden?
Roß' Argumentation ist nicht frei von Ungereimtheiten. Vieles dreht sich im Kreise; mitunter gewinnt man den Eindruck, der Autor weiß selbst nicht, wohin die Reise geht. Und die historischen Ausführungen über die Entwicklung des Westens, die bis in die Antike zurückreichen und damit im doppelten Sinne sehr weit hergeholt sind, erfüllen eher den Zweck, den ohnehin großzügig gedruckten Essay auf Buchformat zu bringen. Der Rezensent legt dieses Buch enttäuscht zur Seite.
Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft.
Rowohlt Berlin, Berlin 2008, 220 S., 17,90 ¤